Verkehrswende: Fraunhofers Bekenntnis

Also, das ist mir jetzt richtig peinlich. Ich bin ganz rot vor Scham. Dauernd! Alle hatten so große Hoffnungen auf mich gesetzt, und ich hab’ sie enttäuscht. Dabei sollte ich mal so ein toller Radweg werden, eine richtige Fahrrad-Schnellstraße, die den Münchner Altstadt-Radlring mit der Isar verbindet. Und jetzt? Der Herr Fraunhofer, nach dem ich benannt bin, würde im Grab total am Rad drehen, wenn er davon wüsste.

Früher war alles besser. Reihenweise standen die Autos auf mir, Stoßstange an Stoßstange, tage- und sogar wochenlang. Oft hatte ich auch Gesellschaft von einem Parkstreifen-Kollegen, immer dann, wenn Leute in zweiter Reihe hielten – weil ich so beliebt war, dass sie auf mir keinen Platz mehr fanden! Da kam dann wegen des bräsig-breiten Kollegen die Straßenbahn nicht mehr durch und klingelte immer ganz aufgeregt. Das waren noch Zeiten!

Und heute? So ein doofer Radentscheid besagt, dass ich und mein Zwillingsbruder auf der anderen Straßenseite Fahrradwege sein müssen. Fahrradwege! Wie öde ist das denn? Die Radfahrer hetzen doch einfach achtlos über mich drüber, keiner bleibt mal länger als eine Ampelphase auf mir stehen, und sie machen weder wuchtig wummernden Motorenlärm noch dekorative Rauchwolken. Lang-wei-lig!

Anfangs hatte ich ja nichts gegen eine Umschulung zum Radweg. Das ist eben der Fortschritt, da muss man sich weiterentwickeln, Karriere machen im multimodalen Verkehrssystem. Aber es versetzt mir immer einen Stich, wenn ich bei AA-Meetings – also bei den Treffen der Anonymen Autostandstreifen – höre, wie gut es die anderen aus meiner Gruppe haben.

Ich weiß gar nicht, warum die bei den Meetings überhaupt rumjammern. Die einen sind heute Teil verkehrsberuhigter Zonen, wo Bäume Schatten spenden, Kinder auf der Straße spielen und alle ganz umsichtig fahren. Andere machen voll auf urban, sind jetzt Freischankflächen vor Restaurants und Cafés und nennen sich großspurig „Schanigärten“, wie die Kollegen aus Wien. Die Leute sitzen da oft stundenlang – freiwillig! Auf einem ehemaligen Parkplatz! Und was wir bei den Treffen über die Ex-Parkstreifen in Kopenhagen, Amsterdam, Paris oder Barcelona gehört haben – ich darf gar nicht dran denken. Das sind Karrieren!

Und ich? Baumbestand: null, Schanigärten: null, urbanes Flair: mir ein Fremdwort!

Ich bin ein Mindestlohn-Radweg am Rand einer Ausfallstraße – noch dazu einer, der nicht den gewünschten Fortschritt bringt. Ich sollte ja vor allem das Radfahren sicherer machen. In der Zeitung stand, dass es 2018/2019 hier in vierzehn Monaten elf Fahrradunfälle gab, das wären neuneinhalb pro Jahr, die Zahl fiel auf acht. OK, ein Rückgang, aber zugleich sind der Autoverkehr und – das kränkt mich echt! – sogar der Fahrradverkehr zurückgegangen: Auf mir sind in acht Stunden nur noch 2.800 Radler unterwegs statt vorher 3.500, sagt die Zeitung. Das Radlvolk fühlt sich auf mir offenbar nicht wohl, keine Ahnung, warum. Jedenfalls hätte die Unfallrate deutlich stärker sinken müssen, schon wegen Tempo 30. Und an wem bleibt’s hängen? An mir!

Manchmal aber, da fühle ich mich wieder jung. Nämlich immer dann, wenn Lieferwagen, Handwerkerautos oder Taxis einfach auf mir stehenbleiben. Zum Glück habe ich nicht so einen Beton-Randstein zur Straße hin, sonst schauten wohl gar keine Autos vorbei. Jetzt, wo ich drüber nachdenke, kommen diese Besuche gar nicht so selten vor. Eigentlich laufend. Das ist schön.

Am schönsten aber ist es, wenn die Feuerwehr ausrückt. Schließlich ist die Feuerwache nur einen Randsteinwurf entfernt. Die kommen immer mit großem Tatütata angerauscht, noch lauter und lustiger als die Straßenbahn. Die Autos fahren dann ganz aufgeschreckt rechts ran und bleiben auf mir stehen, Stoßstange an Stoßstange, ganz wie früher! Das ist Balsam für meine Asphaltseele.

Inzwischen kann ich’s gar nicht erwarten, dass endlich die versprochenen Flugtaxis kommen. Denn wo werden die dann wohl landen, hm? Natürlich auf mir! Da werden die Autofahrspuren sicher ganz gelb vor Neid. Bis dahin heißt es: durchhalten! Und nicht an all die Kollegen denken, die sich in urbanem Flair unter Cafébesuchern, spielenden Kindern und sorglosen Radfahrern räkeln, während ich mich hier abrackere. Solche Gedanken machen nur Risse im Asphalt, und dann sinkt mein Radler-Aufkommen erst recht in den roten Bereich.

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Fotos: Dr. Wilhelm Greiner