Vom Höhlenmenschen zur KI

Zukunftsforscher malten einst eine „Future of Work“, in der Roboter und künstliche Intelligenz (KI) den Menschen alles Öde und Schweißtreibende abnehmen, auf dass wir uns wohlgemut dem Wahren und Schönen widmen können. Schließt man vom ersten Jahr der COVID-Pandemie auf künftige, wird die Zukunft der Arbeit eher darin bestehen, dass wir uns im Home-Office verschanzen, von Zoom-Konferenz zu Zoom-Konferenz hecheln und ansonsten versuchen, Reste von Haltung zu wahren. Zwar lockt dank Impfstoff ein Licht am Ende des Hausflurs, doch das Tempo deutschen Impfbemühens erinnert stark an das der BER-Baustelle. Nach gut einem Jahr Pandemie lohnt der Blick darauf, wie die Krise unsere Arbeitswelt verändert hat – und weiter verändern könnte.

Der Mensch war schon immer Höhlenbewohner. Nun hat ein Virus ihn über den Umweg von Jagen und Sammeln, Ackerbau und Viehzucht, Manufaktur und Fabrik, Globalisierung und Digitalisierung wieder in die Höhle zurückgedrängt. Die Höhle von heute bietet gegenüber ihrem Steinzeitvorbild zwei wesentliche Vorteile: Erstens ist der moderne Höhlenbewohner nicht mehr von seiner gesamten Sippschaft umgeben, sondern höchstens noch von seiner Kernfamilie – aus Sicht des Verfassers dieser Zeilen ein nicht zu unterschätzender Fortschritt; zweitens ist die moderne Höhle deutlich breitbandiger ans Internet angebunden als jene aus steiniger Vorzeit.

Dies steigert die Vielfalt des Unterhaltungsprogramms und erleichtert auch das Arbeiten ungemein: Musste Fred Feuerstein bei dämmrigem Feuerschein sein Werkzeug mühsam selber schnitzen, so bestellt sein aktuelles Pendant derlei Gerätschaft einfach per Internet, ordert einen 3D-Drucker für den Eigenbau oder gründet ein Startup-Unternehmen, um dann mittels Cloud-basierter Collaboration-Tools die Produktion an andere zu delegieren, bevorzugt in einem Niedriglohnland.

Wir sehen also: Auch im Lockdown lässt sich’s leben und arbeiten – zumindest wenn man dank digitaler Technik seiner Tätigkeit überall nachgehen kann. Alle anderen sind gekniffen: Werktätige am Fließband ebenso wie in der Kranken- und Altenpflege, in kommunalen Services oder – sei es auf Befehl eines präsenzfixierten Chefs oder aus Angst vor grottenlangweiligem Einsiedlerdasein – im durchseuchungsfreundlichen Großraumbüro. Der Fokus der IT-Branche richtet sich dabei vorrangig auf die Beschäftigten in der Höhle 4.0, gilt doch mobiles, ortsungebundenes Werkeln mittels allerlei digitaler, Cloud- oder gar KI-gestützter Assistenz als zukunftsweisend.

Das verteilte digitale Arbeiten – obschon aus gegebenem Anlass nicht ganz so mobil, wie Arbeitsvisionäre es einst visionierten – machte letzthin bekanntlich einen Riesensprung nach vorn. Wie aber reagierte das frischgebackene – genauer: frischwiederaufgetaute – Höhlenvolk? Aufschluss darüber gibt eine Fülle von Umfragen, darunter zum Beispiel der „2021 State of Work Report für Deutschland“ des Arbeits-Management-Anbieters Workfront.

Der Bericht nutzt Daten aus zwei Erhebungen, durchgeführt von CGK (Center for Generational Kinetics) im Februar/März 2020 und November/Dezember 2020. CGK befragte hierzulande jeweils 1.000 Werktätige aus Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten, die – eine angenehm präzise Einschränkung und wichtig für die Einordnung der Ergebnisse – am Computer und mit anderen zusammenarbeiten.

Das digitale Höhlendasein scheint manchen gut zu bekommen. So fühlen sich die deutschen Befragten laut dem Report seit der Pandemie zumindest ein kleines bisschen souveräner, beispielsweise beim Zeit-Management (67 Prozent, fünf mehr als in einer Umfrage kurz vor der Pandemie) oder in der Team-Zusammenarbeit (82 Prozent, plus drei gegenüber dem Präcoronarium).

Doch wo Licht ist – der humanistisch gebildete Leser denkt an Platons Höhlengleichnis und nickt wissend –, da ist auch Schatten: So berichtete fast ein Viertel (23 Prozent) der deutschen Befragten von technischen Problemen bei der Arbeit, etwa durch neue Geräte oder Software. 25 Prozent beklagten fehlenden Austausch mit Kollegen. Nachholbedarf besteht offenbar insbesondere bei der Zusammenarbeit über Ländergrenzen und Zeitzonen hinweg: Nur gut die Hälfte (55 Prozent) der Deutschen bezeichneten sich hier als selbstsicher; bei US-amerikanischen und britischen Befragten waren es 77 beziehungsweise 76 Prozent.

Dieser Rückstand dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die Amtssprache internationaler Unternehmen Englisch ist. Spräche man in Online-Meetings Deutsch, wäre das Verhältnis wohl eher umgekehrt. Hier besteht Hoffnung, dass KI-gestützte Übersetzung und Untertitelung der Meeting-Dialoge eines Tages auch uns zu souveränen Videoconférenciers machen wird.

Allerdings erachtet nicht einmal jeder zweite deutsche Arbeitnehmer Technologie als sehr wichtig für die Team-Zusammenarbeit (41 Prozent) oder die eigene Bestleistung (42 Prozent). Am wichtigsten ist den Dichtern und Denkern, dass die Technik genau auf ihr Arbeitsumfeld abgestimmt ist (80 Prozent); auf aktuelle „State of the Art“-Technologie legten hingegen nur 64 Prozent Wert. Zugleich fühlten sich jedoch 47 Prozent durch veraltete oder irrelevante Technik weniger produktiv, 33 Prozent gestresster.

In den USA und UK nannten jeweils fast die Hälfte der Arbeitnehmer mangelnde technische Ausstattung als Kündigungsgrund, bei uns hingegen nur 27 Prozent. Hier führte die Krise offenbar zu neuer Bescheidenheit: Präcoronar lag der Wert noch bei 38 Prozent. Auffällig ist der Unterschied zwischen den Generationen: 29 Prozent der Millenials haben laut eigenen Angaben schon eine Stelle abgelehnt, weil veraltete Technik sie abschreckte, bei den Älteren waren es nur 16 Prozent.

Bemerkenswert: Remote Work scheint zu bewirken, dass Beschäftigte sich weniger an ihren Job gebunden fühlen. Der Wert lag nur bei 70 Prozent, neun weniger als im Vorjahr. Verteiltes Arbeiten erfordert motivierte Beschäftigte, aber das mit der Motivation ist nicht so einfach. Die drei Haupthindernisse für motiviertes Arbeiten in Pandemiezeiten sind laut der Umfrage das Gefühl, nicht genügend geschätzt zu werden (64 Prozent), das Gefühl, die eigene Arbeit sei nicht wichtig (58 Prozent, ein Plus von stolzen 17 Prozent gegenüber 2019) sowie mangelhafte Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten (64 Prozent). Workfront rät den Unternehmen deshalb, man müsse im Remote-Work-Zeitalter Wege finden, um die Wertschätzung der verteilten Belegschaft zu reflektieren.

Remote Work nach der Pandemie

Ein großer Teil der deutschen Beschäftigten wünscht sich, die Option flexiblen Arbeitens möge auch im Postcoronarium erhalten bleiben: Laut einer Citrix-Umfrage – der Remote-Work-Spezialist ließ OnePoll 3.750 Büromitarbeiter in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und UK befragen, darunter 1.000 hierzulande – bevorzugt knapp die Hälfte der deutschen Befragten (48 Prozent) nach der Pandemie ein hybrides Modell, hätte also gern die Wahl zwischen Büro und mobilem Arbeiten. Nur 15 Prozent wollen tagtäglich ins Büro zurück.

50 Prozent der Deutschen stimmten der Aussage zu, Unternehmen, die kein flexibles Arbeiten anbieten, seien für die Beschäftigten unattraktiv. 46 Prozent gaben sogar an, sie würden eine neue Stelle nur antreten, wenn das Unternehmen Home-Office oder flexible Optionen bietet. Jeder zweite (51 Prozent) wünschte sich ein gesetzlich verankertes Recht auf Home-Office und Remote-Arbeit.

Die gute Nachricht für Arbeitgeber: Bei der Citrix-Umfrage erklärten mehr als drei Viertel (77 Prozent) der deutschen Befragten, zu Hause mindestens ebenso lange zu arbeiten wie im Büro, 34 Prozent sogar länger. Wie im Büro, so stellt sich allerdings auch in der häuslichen Höhle die Frage, ob Arbeitsdauer gleichzusetzen ist mit Produktivität. Bedenklich: 40 Prozent der Befragten gaben zu Protokoll, ihre psychische Gesundheit habe sich in den letzten zwölf Monaten verschlechtert. Vor diesem Hintergrund halten fast neun von zehn Arbeitnehmern (88 Prozent) eine Unternehmenskultur für wichtig, die das psychische und/oder physische Wohlbefinden fördert.

Citrix’ DACH-Chef Oliver Ebel riet Unternehmenslenkerinnen und -lenkern anlässlich der Umfrage: „2021 sollten sie den Blick von der rein operativen Seite des Geschäfts lösen und mehr Zeit und Ressourcen darauf verwenden, ihre Werte in einer Welt nach der Pandemie zu definieren – mit einer hybrid arbeitenden Belegschaft, die von ihrem Arbeitgeber unterstützt und eingebunden werden möchte.“

Eine Frage der Unternehmenskultur

Zwar sei der deutsche Mittelstand in puncto Digitalisierung längst nicht so ein Nachzügler wie häufig dargestellt, so Katharina Jessa, die bei Cisco Deutschland den KMU-Vertrieb leitet, gegenüber LANline; doch bei der Förderung neuer Arbeitsweisen sieht auch sie noch Luft nach oben: „Kein Unternehmen kann sich mehr davor wegdrehen, das Konzept der Arbeitswelt neu zu überdenken,“ so Jessa.

Die Unternehmen müssten sich fragen: „Was passiert mit der gesamten kulturellen Herangehensweise? Wie arbeitet man als Team zusammen? Wie gestaltet man die Mitarbeiterführung, die Mitarbeiterentwicklung? Wie motiviert man die Menschen, den persönlichen Kontakt zu halten, wenn sie nicht die Kaffeeküche haben?“

Jessa sieht hier drei Baustellen. Erstens gelte es, Sicherheitsfragen zu klären: „Was braucht man zur IT-Absicherung? Wer darf im Home-Office drucken, wer nicht? Wie stellt man sicher, dass die Daten des Unternehmens und der Endkunden geschützt sind?“ Zur Remote-Work-Sicherheit sagt Peter Machat, DACH-Chef bei Ivanti: „Bis 2025 werden Zero-Trust-Zugänge und -Architekturen die Norm sein.“

Denn ein Unternehmen müsse heute davon ausgehen, dass sich Angreifer bereits im Netzwerk befinden. Sicherheit lasse sich deshalb nur gemäß dem Zero-Trust-Motto „Vertraue nie, verifiziere immer“ gewährleisten. Ergänzend, so Machat, sollten Unternehmen Datenzugriffe nur jenen Apps erlauben, denen sie vertrauen und die sie verwalten können – und selbst für diese Apps DLP-Richtlinien (Data Loss Prevention) einrichten.

Zur IT-Security gesellen sich laut Katharina Jessa weitere Sicherheitsaspekte, etwa Regelungen für Arbeitsunfälle im Home-Office. Ist eine rundum sichere Basis geschaffen, gehe es zweitens um eine Hybrid-Work-Strategie: „Um nicht in eine Art Zweiklassengesellschaft abzurutschen, brauchen Unternehmen ein klares Konzept zum Thema hybrides Arbeiten“, so Jessa. „Denn der Arbeitsplatz ist zukünftig da, wo man sich befindet, und nicht da, wo man hingeht.“ Das Unternehmen müsse auch im Home-Office das geeignete Arbeitsumfeld schaffen, damit die Beschäftigten sich auf ihre Arbeit konzentrieren können.

Der dritte Kernpunkt ist für die Cisco-Managerin die Unternehmenskultur. Denn, so Jessa, weder Gesellschaft noch Unternehmenskultur förderten es zu sagen: „Meine Kinder sind zu Hause, ich kann heute Vormittag nicht arbeiten.“ Ihre Forderung: „Das Management muss es unterstützen, dass Offenheit gelebt werden darf, dass Verletzlichkeiten gezeigt werden können, dass man sich aufeinander verlassen kann.“ Hier sei es wichtig, Unterschiede zu akzeptieren: „Nicht jeder ist digital affin, nicht jeder fühlt sich wohl, per Video zu sprechen.“

Eine Hybrid-Work-Kultur beginnt laut Chris Dercks, DACH-Chef bei F5, schon beim Onboarding: „Die größten Hindernisse beim Digital Onboarding sind das gegenseitige Kennenlernen, die Integration in das Team und die Sicherstellung der Teamdynamik“, so Dercks. „Dies erfordert deutlich mehr und früheres Nachfragen, erfahrene Mentoren, digitale Einarbeitungspläne, individuelle Lösungen für die Mitarbeitenden sowie Teaming-Events zur Identifikation mit dem Unternehmen.“ Gefragt sei hier mehr Proaktivität seitens des Managements wie auch der Beschäftigten.

Zum Wir-Gefühl verteilter Teams merkt Christian Koch, Digital-Workplace-Experte bei Campana & Schott, an: „Mit den richtigen Voraussetzungen des digitalen Arbeitsplatzes lassen sich Firmen-Events, Expertengespräche oder Kaffeepausen erfolgreich virtualisieren – und fördern so die Interaktion sowie das Zugehörigkeitsgefühl.“ Das Führungsteam sei gefordert, diese Kultur vorzuleben und zu fördern.

Wie das in der Praxis aussehen kann, erläuterte Cisco-Managerin Jessa an einem Beispiel: Als die „Black Lives Matter“-Bewegung letztes Jahr in den USA ein brisantes Thema war, sei die Cisco-Führung mit der Belegschaft im Gespräch geblieben, bis alle Fragen dazu beantwortet waren. Eine solche Diskussionskultur dürfte künftig an Bedeutung gewinnen – selbst und gerade wenn die Beschäftigten weit verstreut sind.

Der lange Weg aus der Höhle

Manch ein pandemiemüder Höhlenbewohner kann es kaum erwarten, den endlosen Schattenspielen auf seinem Display zu entkommen und hinaus ins Sonnenlicht zu treten. Der Weg vom verschanzten zum flexiblen Arbeiten, wie es „Future of Work“-Vordenker propagieren, kann steinig sein. Er erfordert nicht nur digitale Tools, KI-Assistenten und Cloud-Services, sondern auch eine Wende in der Unternehmenskultur: weg vom Sippenältesten, der am Lagerfeuer seine Horde um sich schart, hin zum Online-Miteinander, das auf Vertrauen, Offenheit und standortübergreifender Kollegialität beruht.

So wie unser innerer Höhlenmensch gestrickt ist, liegt vor uns wohl eine Aufgabe, die BER-Bau und Impfkampagne als Fingerübungen erscheinen lässt.

(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 05/2021.)

Bild: (c) Wolfgang Traub