Parallelwelten

Der Technologie-Influencer von Welt war letztes Jahr Blockchain-, Bitcoin- oder Metaverse-Experte, dieses Jahr hingegen ist er ChatGPT-Berater. Denn die Konversations-KI (künstliche Intelligenz) ChatGPT beflügelt die Phantasie: Unser Influencer von Welt inszeniert hier gerne eine Zukunft, in der man von Workation zu Workation jettet und eine KI den Großteil der Arbeit erledigen lässt, während man, die Füße im Pool, den Sonnenschein genießt und parallel per AR-Brille (Augmented Reality) mit Kollegen oder Kunden konferiert. Doch auf dem Weg zur schönen neuen Arbeitswelt lauern Hindernisse.

Anno 3 n.Cor. (nach Coronabeginn) wissen wir: Beschäftigte können remote ebenso produktiv sein wie im Büro, mitunter sogar produktiver. Nach – hoffentlich – überwundener Pandemie kommt daher manch ein Büroling auf die Idee, dem grauslig-kalten Deutschland zu entfliehen und sein Notebook irgendwo aufzuklappen, wo es lauschiger und möglichst auch strandnäher ist. Dafür haben trendige Wortneuschöpfer die trendige Wortneuschöpfung „Workation“ erfunden (auch „Workcation“ geschrieben). Das Kofferwort aus „Work“ und „Vacation“ steht für ein Konzept, das sich früher ganz altbacken und un-influencerisch „Arbeitsurlaub“ nannte: Man werkelt, aber eben nicht im Büro, sondern irgendwo, wo’s schön ist.

Arbeiten, wo andere Urlaub machen

Auf Instagram, YouTube & Co. findet man viele bunte Bilder von Menschen, die dekorativ und ultra-relaxed irgendwo in Exotistan am Pool, im Wohnmobil (#VanLife), am Strand oder an anderen fotogenen Lokationen arbeiten – moderne Technik macht’s möglich. Der digitale Nomade – und damit auch der Büroexilant – braucht dazu schließlich nur Smartphone und Notebook, ein WLAN mit solider Internetanbindung sowie möglichst ein paar Sicherheitsmechanismen wie MFA (Mehr-Faktor-Authenfizierung) und SASE (Secure Access Service Edge). Per Digital Workspace oder DaaS (Desktop as a Service) lässt sich der Zugriff auf Unternehmensressourcen zusätzlich absichern und datenschutzkonform gestalten, unabhängig vom Arbeits- oder Arbeitsurlaubsort.

Technisch gesehen ist das Eintauchen in die Workation-Parallelwelt – Füße im Pool, Kopf und Oberkörper im Online-Meeting – längst kein Problem mehr. Wer schnell mal für ein Arbeitsurläubchen (je nach Budget) nach Malle oder auf die Malediven jetten will, dem versperren ganz andere Hürden den Weg zum Check-in-Schalter.

Ein Mann auf Workation laut der Text-zu-Bild-KI Dall-E 2. Generative KI hat (noch) Probleme mit Händen und Gliedmaßen. Der Mann im Bild hat entweder drei Unterarme, oder eine hautfarbene Schlange beißt gerade in sein Notebook. Bild: Dr. Wilhelm Greiner mittels NightCafé

„Mit Workation startet die nächste Stufe des unbeschränkten mobilen Arbeitens von irgendwo“, sagt Frank Roth, Vorstand des auf „Future of Work“-Themen spezialisierten Softwarehauses AppSphere. Für Angestellte seien dabei jedoch Grenzen gesetzt: „Es gilt bei aller Euphorie, die im Ausland geltenden steuerlichen, rechtlichen, arbeitsplatzbezogenen und versicherungstechnischen Gesetze und Vorschriften einzuhalten, um sich nicht strafbar zu machen. Somit wird Workation zur Abwägungssache zwischen Chance und Risiko“, so Roth weiter. Als Megatrend für Angestellte wie das Home-Office werde sie der Ansatz „sicher nicht durchsetzen“.

Denn zu Aspekten wie einer Doppelbesteuerung bei längerem Auslandsaufenthalt kommen diverse weitere Fußangeln, zum Beispiel Haftungsfragen: Wer zahlt, wenn das Unternehmens-Notebook in den Pool fällt? Wer bei einem beruflich genutzten Privat-Laptop? Wer haftet bei Krankheit oder Unfall? Solange alles reibungslos läuft, ist der Einsatzort heute unerheblich – aber wer zahlt den kurzfristigen und somit gnadenlos überteuerten Rückflug, wenn ein Kundenprojekt gegen die Wand zu fahren droht und der Kunde den arbeitsurlaubenden Projekt-Manager vor Ort sehen möchte, und zwar (pocht auf Armbanduhr) jetzt gleich?

Außerdem stellen sich Fragen der Unternehmenskultur: Wenn Kollegin Meier von Ibiza aus arbeiten darf, dann will Kollege Müller das vielleicht auch – selbst wenn sein Berufsbild derlei nur bedingt zulässt. Hier droht eine Kluft zwischen zwei ganz anderen Parallelwelten: nicht zwischen online und offline, sondern zwischen digital gestützt jettend und sich benachteiligt fühlend.

Will ein Beschäftigter auf Biegen und Brechen mal für Wochen oder Monate vom Ausland aus arbeiten, so AppSphere-Vorstand Roth, dann müsse man notfalls eben das Arbeitsverhältnis lösen und mit dem Betreffenden einen anderen Vertrag schließen. Denn für Freiberufler und Selbstständige gelten ganz andere Gesetze – dann jettet der reiselustige Digitalnomade eben auf eigenes Risiko.

Dichter und Definierer

Fordert man die derzeit vieldiskutierte Konversations-KI ChatGPT auf, „Workation“ in zwei kurzen Sätzen zu definieren, erhält man eine präzise und zugleich nach echter Konversation klingende Antwort (hier Englisch, ChatGPT kann aber auch Deutsch):

Bittet man den Chatbot hingegen um einen Limerick zum Thema, so dichtet er:

„There once was a worker so wise,
Who decided to work in disguise,
With laptop and pen,
He took off again,
On a workation under the skies!“

OK, nicht die filigranste Pointe aller Zeiten, aber formal ein 1A-Limerick. Ohne mit der digitalen Wimper zu zucken, würde ChatGPT auch einen Essay zum Thema liefern, ein Shakespeare-Sonett, einen Rap-Text oder auch eine Ode der Sängerin Adele auf das Arbeiten am Strand. Kein Wunder also, dass ChatGPT für reichlich Wirbel sorgt, seit das Startup OpenAI Ende November 2022 die Beta-Version seiner auf Konversation trainierten KI öffentlich zugänglich machte: Generative KI – also eine KI, die nicht nur analysiert und Empfehlungen ableitet, sondern komplett neue Inhalte generiert – war in Gartners KI-Hype-Cycle vom Juli 2022 kurz vor dem Peak; nun hat sie offenbar das Gipfelkreuz erreicht.

Microsoft stockte jüngst laut Medienberichten seine Investition in OpenAI von einer auf zehn Milliarden Dollar auf. Zeitgleich integriert der Konzern die KI in eigene Produkte, allen voran seine Suchmaschine Bing: Diese soll dadurch viel hilfreichere Auskünfte geben als Google, zumal man – wie bei ChatGPT – zu einer Frage auch Anschlussfragen stellen kann. Anders als ChatGPT untermauert die Bing-KI ihre Ergebnisse mit Quellenangaben – wichtig bei einer Suchmaschine, zumal OpenAIs Chatbot mitunter „halluziniert“, sprich: sich Fiktives zusammenreimt und beherzt als Fakt ausgibt.

„Sprachmodelle erzeugen wahrscheinliche neue Zeichenketten auf Basis der Zeichenketten im Trainingsmaterial. Oft stimmen die so erzeugten Aussagen, selbst Rechenaufgaben kann man auf die Art lösen“, erläutert Aljoscha Burchardt, Principal Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). „Wenn ich möchte, dass die erzeugten Aussagen wirklich stimmen, muss ich sie hinterher prüfen.“

Dies könne man automatisieren, indem die Systeme beispielsweise die generierten Aussagen mit anderen Wissensquellen wie Wikipedia oder Fakten-Datenbanken abgleichen. „Das kostet natürlich Zeit und Rechenleistung und damit Geld“, so Burchardt. „Wie weit man damit kommt, ist derzeit noch offen. Einen Basisfakt wie den Umsatz eines Unternehmens kann man eher leichter verifizieren, die Antwort auf die Frage, ob der Kapitalismus sich bewährt hat, wohl eher nicht so leicht.“

Google – anerkannter KI-Vorreiter, stammt doch aus Googles KI-Labor auch die Basisforschung zum Transformer (das „T“ in „GPT“) – hatte wohl nicht zuletzt aufgrund der spontanen Ausflüge der KI ins Reich der Phantasie lange gezögert, seine Suchmaschine auf generative KI umzustellen. Unter dem Druck des aktuellen ChatGPT-Hypes jedoch beeilte sich der Konzern, Vergleichbares zu präsentieren: Unter dem Namen Bard gibt es nun einen ChatGPT-Konkurrenten (der ebenfalls halluziniert, sogar in Googles eigener Bard-Werbung), und auf einer etwas hastig inszeniert wirkenden Pressekonferenz stellte Google Pläne vor, Google Search um interaktive KI zu ergänzen.

Die kompakten Ergebnisse (wenn sie denn verlässlich sind) könnten zusammen mit den Rückfragen, die eine Konversations-KI ermöglicht, die Informationsbeschaffung erheblich beschleunigen – manche Auguren sehen Bing schon Google den Rang ablaufen. Dabei ist allerdings die Beantwortung einer Frage in Google- oder Wikipedia-Manier nur eine Fingerübung im Vergleich zu dem, was generative KI alles kann – auch jenseits von Limerick, Sonett und Ode: Schüler*innen haben schnell das Potenzial für das Delegieren selbst komplexer Hausaufgaben erkannt, und im Web kursieren zahllose Beispiele für ChatGPT-Inhalte, vom Bewerbungsschreiben über Programmcode bis hin zu bestandenen Medizin- oder Wirtschaftsinformatik-Prüfungen.

Hinzu gesellen sich Deep-Learning-basierte Text-zu-Bild-Generatoren wie Dall-E 2 (ebenfalls aus dem Hause OpenAI) oder dessen Open-Source-Alternative Stable Diffusion, die nach Nutzervorgaben (Prompts) Bilder erzeugen. Google Translate und DeepL wiederum liefern auf Knopfdruck Übersetzungen in hoher Qualität. Kurz: Generative KI dürfte die Arbeitswelt so grundlegend revolutionieren wie zuvor nur der Mainframe, der PC, das Internet, das Smartphone und das Katzenvideo.

Arbeiten und arbeiten lassen

Die Möglichkeiten, Arbeitsabläufe per generativer KI zu beschleunigen, scheinen schier unendlich – kein Wunder, dass die Tech-Influencer aus dem Häuschen sind. Doch wo anfangen? „Die Frage ist: Wo sind unsere Pain Points? Wo wird unnötige Arbeitszeit verschwendet mit Dokumentation? Wo sind wir zu langsam in der Beantwortung der immergleichen Kundenanfragen? Wo können wir wegen Sprachbarrieren bestimmte Märkte nicht bedienen? Von dort aus würde ich die Einsatzgebiete einkreisen“, sagt Aljoscha Burchardt vom DFKI.

Doch auch hier liegen noch Stolpersteine im Weg. Da ist zunächst das erwähnte Problem der Halluzinationen: Krankenhauspersonal muss immer mehr Zeit für Dokumentation aufwenden, das wäre also ein wunderbarer Einsatzfall für generative KI – aber bitte nur, wenn ChatGPT nicht Symptome oder Diagnosen in die Krankenakte hineindichtet.

Ein weiterer Bremsklotz: Bias, also Ergebnisverzerrung durch mangelhafte Datenbasis oder Methodik. Zum Beispiel erstellt ein KI-Service namens Lensa nach Upload eines Selfies automatisch einen bunten Strauß möglicher Profilbilder (Avatare) in diversen Stilen. Doch Frauen – darunter Technology-Review-Autorin Melissa Heikkilä – berichteten, dass Lensa sie mitunter leicht bekleidet und sogar in anzüglicher Pose abbildet, männliche Kollegen hingegen nicht.

Der Hintergrund: Lensa nutzt Stable Diffusion, und diese KI generiert ihre Kreationen auf der Basis unzähliger Bilder aus dem Internet. Und hier findet man – nein, wie überraschend! – zahlreiche sexualisierte Abbildungen von Frauen, viel mehr als von Männern. Die Folge: Generative KI verstärkt, unabhängig vom Thema, den bestehenden Bias, indem sie ihn aggregiert und somit repliziert – und dies in einer KI-gestützten Zukunft auf großem Maßstab und immer wieder.

Der Kampf gegen solche Verzerrungen dürfte damit künftig eine der wichtigsten Aufgaben werden, will man beim KI-Einsatz im Arbeitsalltag keine Vorurteile und Benachteiligungen zementieren. Mal sehen, wie stark sich die IT-Entwicklergemeinde – bekanntlich überwiegend ein „Boys’ Club“ – dafür erwärmen kann.

KI-Souveränität

Ein großer Teil der KI-Angebote kommt heute aus den USA, andere aus China: So präsentierte der chinesische Suchmaschinenbetreiber Baidu kürzlich eine ChatGPT-Konkurrenz namens Ernie (von Google stammt das Sprachmodell Bert – Ernie und Bert, ihr versteht). Europa hingegen hinkt hinterher – und wieder einmal droht Abhängigkeit von innovativer Technik aus dem Ausland.

„Es ist operativ eine gute Idee, zentrale Elemente der Wertschöpfung unter eigener Kontrolle zu haben, was ja auch unter dem Stichwort ‚Digitale Souveränität‘ für andere Teilbereiche angestrebt wird“, sagt DFKI-Forscher Burchardt. „Als Gesellschaft und Wissenschaft möchten wir bei der Entwicklung beteiligt sein und unsere eigenen Daten, Werte und Vorstellungen einbringen können, anstatt nur passiver Abnehmer und Zuschauer zu sein.“ Schließlich drohen zum Beispiel die bekannten Datenschutzrisiken, wenn Beschäftigte Interna an KI-Assistenten aus den USA oder China weitergeben, um Arbeitsschritte zu delegieren.

Erschwerend kommt – wie überall – die Klimakrise hinzu: Maschinelles Lernen machte laut einem Forschungspapier von David Patterson et al. in den letzten Jahren 15 Prozent von Googles gesamtem Energieverbrauch aus. Dieser lag gemäß Googles aktuellem Nachhaltigkeitsbericht im Jahr 2020 bei 15,1 TWh und stieg 2021 auf 18,3 TWh.

Zum Vergleich: Laut IEA (International Energy Agency) lag der Stromverbrauch Litauens mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern im Jahr 2020 bei 12,5 TWh. Der IT-Unternehmer Chris Pointon rechnete den Energiebedarf von ChatGPT hoch und kam auf einen Schätzwert von 11.870 kWh pro Tag – und dies nur für den laufenden Betrieb, das Modelltraining noch nicht eingerechnet.

Unabhängig davon, wie nahe Pointon dem realen Wert kam: KI braucht Rechenpower – in rauen Mengen. Laut IEA-Schätzung machen Rechenzentren und das Internet je 1,0 bis 1,5 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs aus – und das mit stark steigender Tendenz. „Nachhaltigkeit“, bringt es Ari Albertini, Co-CEO des Münchner Softwarehauses Ftapi, auf den Punkt, „ist für die gesamte Gesellschaft zum elementaren Thema geworden. Sie mit den Chancen der Digitalisierung zu verknüpfen, wird eine der zentralen Herausforderungen sein.“ Ein eskalierender KI-Einsatz könnte dieses Problem verschärfen.

Last but not least: Von den Vorteilen der „Future of Work“, wie die IT-Branche sie anpreist, profitieren die Menschen in sehr unterschiedlichem Maße. Zum Beispiel erzählte die Psychologin Marisa Arat kürzlich auf Linkedin, ihre Familie komme aus der Gastronomie, um fortzufahren: „In der Gastronomie sind alle typischen Linkedin-Diskussionen irrelevant. Keine Vier-Tage-Woche, keine Workations, kein Home-Office, feste Arbeitszeiten.“ Die Digitalisierung hat längst – selbst ohne Mithilfe durch Facebooks bislang müde dümpelndes Metaverse – für zwei Parallelwelten gesorgt: Digitalisierungsprofiteure hier, alle anderen dort.

Diese Spaltung birgt enormen sozialen Sprengstoff. Das Risiko: KI könnte die digitale Schere radikal vergrößern, nicht zuletzt durch viele neue Arbeitslose, deren Aufgaben ein Bot schneller und effizienter erledigen kann – und ohne dazu erst ins Ausland jetten zu wollen, denn Chatbots sind genügsam und wasserscheu.

Die Hoffnung hingegen ist, dass generative KI helfen könnte, die Kluft zwischen den Parallelwelten zu verringern, sind doch Einsatzfälle quer durch sämtliche Branchen denkbar: „ChatGPT, mach’ die Rechnung für Tisch 14 fertig! Sechs Helle und vier Caipis. Aber bitte mit Bewirtungsbeleg! Die beiden Herrschaften sind hier schließlich auf ‚Workation‘.“

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(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 03/2023.)

Bild: (c) Wolfgang Traub