Elementar, mein lieber Watson

„Seine Ignoranz war so bemerkenswert wie sein Wissen“, urteilt der Ich-Erzähler John H. Watson in „A Study in Scarlet“ über Sherlock Holmes. „In zeitgenössischer Literatur, Philosophie und Politik schien er so gut wie nicht bewandert.“ Denn in Arthur Conan Doyles Romanen ist Dr. Watson ein Mann von Welt, Holmes hingegen eine detailverliebte Schlussfolgerungsmaschine. Seltsam also, dass IBM seine KI einst „Watson“ taufte und nicht „Sherlock“. Allerdings können Anwender so die Analysen der IBM-KI mit dem sprichwörtlichen, besserwisserischen „Elementar, mein lieber Watson“ kommentieren (was Sherlock in den Romanen übrigens so nie gesagt hat). Auf Watson jedenfalls basieren zahlreiche Innovationen, die IBM jüngst auf der Hausmesse Think vorstellte.

Zum Beginn seiner Think-Keynote rückte CEO Arvind Krishna jedoch eine zweite Schlüsseltechnologie in den Fokus: die Hybrid Cloud. Er zitierte IDC-Prognosen, wonach innerhalb der nächsten drei Jahre 7,43 Billionen Dollar in die digitale Transformation fließen werden, also rund zehn Prozent der Weltwirtschaftkraft. Vor diesem Hintergrund betonte er: „IBM setzt ganz auf die Hybrid Cloud. Denn wir verstehen, dass Unternehmen einen klaren und glaubhaften Weg benötigen, um ihre Kernsysteme mit fortschrittlichen Cloud-Services zu modernisieren.“ Er zitierte Analystenzahlen, wonach bislang nur 25 Prozent der Workloads in die Public Cloud abgewandert sind. Dies sah er als Indiz dafür, dass die Public Cloud eben nicht als alleinige Lösung akzeptiert sei – vielmehr werde die Hybrid Cloud den Fortschritt im nächsten Jahrzehnt prägen.

Experten sehen das Pendel längst von der Cloud zurück zum Netzwerkrand (Edge) schwingen. Denn mit der stetig steigenden Fülle von Geräten, Maschinen und Anlagen, die ohne Ende Daten generieren, steigt der Bedarf an Rechen- und Speicherkapazitäten direkt am Dateneintrittspunkt. Obwohl der Edge nicht Krishnas Kernthema war, ist er sich dessen natürlich voll bewusst: „Wir treten in eine Ära ein, in der das Computing allgegenwärtig wird.“

Allerorts niederprasselnde Daten, erzeugt von unzähligen Kameras, Sensoren und Protokollierungsmechanismen, bilden die Basis künftigen Fortschritts, da ist sich die IT-Branche einig. Auch Krishna stützte sich auf die oft zitierte IDC-Prognose, bis 2025 werde das globale Datenvolumen 175 Zettabytes betragen (das entspricht 175-mal unvorstellbar vielen Daten). Wie man im 20. Jahrhundert jede Fabrik mit Elektrizität ausgestattet habe, so Krishna, durchziehe man im 21. jede Fabrik mit Daten. Dieser Datenzyklon ist mehr, als der Mensch allein bewältigen kann: „Der einzige Weg, aus all diesen Daten Sinn zu gewinnen“, so Krishna, „ist künstliche Intelligenz.“

IBM hatte drei Gäste in Form aufgezeichneter Remote-Interviews zur Keynote geladen, um dies zu illustrieren. So diskutierte Krishna mit Tony Hemmelgarn, CEO von Siemens Digital Industries Software, das Konzept des digitalen Zwillings: Siemens’ „Closed-Loop Digital Twin“, so Hemmelgarn, biete eine KI-gestützte Feedbackschleife, um etwa eine Maschine besser verstehbar zu machen und Designänderungen zu erleichtern.

Karen Lynch, CEO des Gesundheitsdienstleisters CVS Health, beschrieb, wie ihr Unternehmen IBM-Technik zur Unterstützung der COVID-19-Impfkampagne in den USA nutzt und damit einen Anstieg des Anrufvolumens um das Zehnfache bewältigte. Eine Contact-Center-Lösung mit Watson Assistant auf IBMs Public Cloud, eingerichtet in nur vier Wochen, habe es ermöglicht, Fragen zu Tests, Impfstoffen, Symptomen, Impfnachweisen, Kosten etc. schneller und genauer zu beantworten. Laut Lynch konnte CVS so bis zu 300.000 Termine an einem Tag vereinbaren. Der virtuelle Assistent habe Millionen Anrufe abgewickelt, meist ohne menschliches Zutun.

„Wir haben in 13 Monaten die digitale Transformation eines Jahrzehnts erlebt“, kommentierte später Brett Taylor, Präsident und COO von Salesforce, die aktuelle Lage: „Wir treten in eine komplett digitale Work-from-anywhere-Welt ein.“ So hätten die Unternehmen zum Beispiel während der Krise alle Bankgeschäfte online abgewickelt. Die zunehmende Bedeutung von KI bestätigte Taylor anhand der Zahl, dass die Nutzung des Einstein-Chatbots von Salesforce während der Pandemie um stolze 706 Prozent gestiegen sei.

Watson treibt Innovationen voran

Den Großteil seiner Keynote nutzte der IBM-Chef, um eine Reihe von Innovationen vorzustellen, meist auf Basis der Watson-KI. So soll die neue KI-gestützte Funktion AutoSQL in Cloud Pak for Data die Antwortdauer auf verteilte Abfragen bis auf ein Achtel der Zeit verkürzen. AutoSQL, so IBM, automatisiere Datenzugriffe sowie die Integration und Verwaltung von Daten, ohne dann man diese je verschieben müsste – unabhängig von Speicherort und Speicherart. Verteilte Data Lakes für KI-Umgebungen kennt man schon von HPEs Ezmeral Data Fabric; dem gegenüber betont IBM, die hauseigene Datenstruktur automatisiere komplexe Verwaltungsaufgaben mittels künstlicher Intelligenz, um verteilte Daten über mehrere Umgebungen hinweg zu erkennen, zu verstehen, darauf zuzugreifen und sie zu schützen.

Watson Orchestrate wiederum ist eine neue interaktive KI-Funktion, die die Produktivität von Beschäftigten steigern soll: Ohne IT-Kenntnisse zu erfordern, ermögliche sie es, Workflows über Collaboration-Tools wie Slack und E-Mail in natürlicher Sprache zu initiieren. Dazu lasse sie sich mit gängigen Geschäftsanwendungen wie Salesforce, SAP und Workday verbinden. Die KI-Engine von Watson Orchestrate wähle automatisch die für eine Aufgabe erforderlichen Funktionsbausteine (Skills) aus, bringe sie in die erforderliche Reihenfolge und verknüpfe sie in Echtzeit mit Anwendungen, Tools und Daten. Dies soll Routineaufgaben wie die Planung von Meetings, das Einholen von Genehmigungen, aber auch die Erstellung von Quartalsberichten beschleunigen. Der von IBM Research entwickelte Bestandteil des IBM Automation Cloud Paks ist als Preview erhältlich und soll noch dieses Jahr allgemein verfügbar werden.

Ein weiteres neues Produkt, Maximo Mobile, soll Technikern im Außendienst die Arbeit erleichtern, wenn sie Anlagen wie Straßen, Brücken, Fließbänder etc. warten. Eine intuitive Benutzeroberfläche versorge die Techniker zum richtigen Zeitpunkt mit den benötigten Daten zur Betriebstechnik. Selbst an entlegensten Orten könne das Wartungspersonal – man errät es: unterstützt durch Watson-KI – auf Fachwissen zugreifen, um komplexe Probleme zügig zu lösen, verspricht IBM.

Mono2Micro, eine neue Funktion in der WebSphere Hybrid Edition, soll Unternehmen dabei unterstützen, ihre Anwendungen für die Hybrid Cloud zu optimieren und zu modernisieren. Auch dieses Tool nutzt die von IBM Research entwickelte KI, diesmal aber, um große Unternehmensanwendungen zu analysieren und Empfehlungen zu geben, wie man sie am besten für den Umzug in die Cloud anpasst. Dies soll den fehleranfälligen Prozess vereinfachen und beschleunigen, die Kosten senken und den ROI steigern.

Krishna betonte in der Keynote auch, man stebe nach mehr Kooperation in der Branche. So habe IBM zum Beispiel das Project CodeNet veröffentlicht. Dabei handelt es sich laut IBM-Angaben um einen Open-Source-Datensatz, der 14 Millionen Codebeispiele, 500 Millionen Codezeilen und 55 Programmiersprachen umfasst. Das Projekt ziele darauf ab, es der KI zu ermöglichen, Code zu verstehen und zu übersetzen. Dies umfasse die Codesuche (automatisches Übersetzen von Code in einen anderen, einschließlich älterer Sprachen wie Cobol), Codeähnlichkeit (Identifikation von Überschneidungen und Ähnlichkeiten zwischen Codes) und Codeeinschränkungen (Anpassung gemäß den Anforderungen und Parametern eines Entwicklers). Project CodeNet soll damit den Unternehmen helfen, die Modernisierung ihrer IT zu beschleunigen.

Im Umfeld der Think-Konferenz hat der Konzern noch eine Reihe weiterer Neuerungen angekündigt: Die Qiskit Runtime soll die Geschwindigkeit von Quantenschaltkreisen, den Bausteinen von Quantenalgorithmen, um das 120-Fache steigern. Man habe Qiskit als Open-Source-Framework für eine weltweite Entwicklergemeinschaft geschaffen, so IBM, um Quanten-Computing allen zugänglich zu machen. Eine weitere Neuerung, vorgestellt kurz vor der Think, ist der weltweit erste Zwei-Nanometer-Chip, der künftig das Computing vom RZ bis zum Edge beschleunigen soll. 50 Milliarden Transistoren sollen nun auf die Größe eines Fingernagels passen. Die 2-nm-Technologie erzielt laut IBM 45 Prozent mehr Leistung als heutige 7-nm-Chips. Sie benötige nur ein Viertel der Energie.

Heute, da die Welt sich von der Pandemie erholt, brauchen Unternehmen aus Krishnas Sicht vor allem eine starke digitale Basis: die Hybrid Cloud und KI. Anders formuliert: Für das Geschäftsleben der Zukunft ist laut IBM Hybrid-Cloud-basierte künstliche Intelligenz à la Watson nicht nur wichtig, sondern geradezu elementar.

(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 06-07/2021.)

Bild: (c) Wolfgang Traub