Ich muss zugeben: Ein Vorurteil hat mich lange davon abgehalten, Paris zu besuchen. Immer wieder wurde mir kolportiert, der Franzose reagiere stets genervt und herablassend, sobald er merke, dass sein Gegenüber nicht fließend Französisch spricht. Geschäftsreisen nach Nizza bestätigten dies zwar nicht, aber bei solchen Anlässen bewegt man sich fast ausschließlich in einem dieser immer gleichen Business-Hotels, in denen Englisch quasi Amtssprache ist.
Nun hatte ich in der Schule kein Französisch. Einen halbherzigen Versuch, die Lücke zu schließen, brach ich zu Studentenzeiten spontan ab, als ich lernte, wie der Franzose die Zahl „99“ bildet. Viermal-zwanzig-neunzehn – die spinnen, die Gallier! Da blieb ich lieber beim nachvollziehbaren „ninety-nine“, vielen Dank.
Im Mai aber war ich auf Einladung von Extreme Networks auf deren Kundenkonferenz in Paris (hier mein Bericht darüber). Also hängte ich noch ein paar konferenzfreie Tage dran und erkundete die Metropole auf Spaziergängen in Begleitung der Ehefrau meines Vertrauens.
Mein Vorurteil erwies sich schnell als ein eben solches: Sobald die Einheimischen merkten, dass wir Touristen waren (das sah man sofort) und mit dem Französischen rangen (meine Frau: rostiges Schulfranzösisch; ich selbst: nicht mal die zweistelligen Zahlen), antworteten sie stets entweder mit verständnisvollem Nicken oder aber gleich auf Englisch. Ich hätte also problemlos 99 Croissants bestellen können, beschränkte mich aber eisern auf eines pro Café-Besuch.
Jenseits des Reality-Checks verkrusteter Vorurteile diente unser Flanieren einem weiteren Zweck: Ich wusste (aus offenbar verlässlicheren Quellen), dass Paris zu den führenden Großstädten weltweit zählt, wenn es darum geht, den seit den 1960er-Jahren vor allem aufs Auto ausgerichteten urbanen Raum umwelt-, anwohner-, fußgänger- und radfahrerfreundlich umzugestalten. Das wollten wir uns, zumal bei sonnigem Frühlingswetter, live und in Farbe ansehen.
Die treibende Kraft hinter der Pariser Transformation ist Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Die Sozialistin – hierzulande würde man wohl sagen: Sozialdemokratin – gewann 2010 als erste Frau die Wahl für dieses Amt und erbte von ihren männlichen Vorgängern einen Keller voller Probleme.
Eines der drängendsten: die Luftverschmutzung. Paris verschwand damals so oft unter einer Smog-Glocke, dass wohl selbst das Los Angeles der 1980er-Jahre anerkennend genickt hätte. Die Stadt musste schon wiederholt Strafen wegen Überschreitens der Schadstoff-Grenzwerte zahlen – bis in die jüngste Vergangenheit.
Smog-Alarm trifft Klimawandel
Erschwerend kam und kommt die Klimaüberhitzung hinzu. Für alle, die davon noch nichts gehört haben, weil sie in einer Höhle oder ihrem Auto gehaust haben, hier die Fast-Food-Fassung: Der Mensch verheizt seit ca. 200 Jahren eifrigst sämtliche fossilen Brennstoffe, die sich in den Jahrmillionen zuvor angesammelt haben, wundert sich aber dann, dass es auf dem Planeten so heiß wird, dass dies seine Lebensgrundlage gefährdet. Oder ignoriert es gleich ganz: Was ich nicht weiß, macht mich nicht klimaerwärmt.
Im Jahr 2003 starben in Frankreich aufgrund einer Hitzewelle über 15.000 Menschen, allein in Paris mehr als 1.000. Unter Extremhitze leiden Französinnen und Franzosen inzwischen praktisch jeden Sommer und der Klimawandel wird diese Lage weiter verschärfen. Besonders bedroht sind Großstädte. So hieß es 2023 in einer Studie, die die Hitze- und Kälterisiken von 854 europäischen Städten verglich: „Die Stadt mit den höchsten hitzebezogenen RRs [relativen Risiken] über alle Altersgruppen hinweg war Paris“. Bürgermeisterin Hidalgo hat also gleich zwei gewichtige Gründe, um die Transformation ihrer Stadt in Richtung umwelt- und damit bewohnerfreundlich zu forcieren.
Facetten der Metamorphose
Eine urbane Transformation umfasst zahlreiche Aspekte, von der Energieversorgung bis zur Gebäudedämmung. Ein Bereich, der schnell sicht- und messbare Erfolge ermöglicht, ist – auch wenn hierzulande die zuständigen Minister gern den Kopf in den Asphalt stecken – der Straßenverkehr.

Der Paris durchschlendernde Tourist entdeckt eine beachtliche Reihe von Maßnahmen – unter Hidalgos Führung gegen den Widerstand von Autoindustrie, Taxifahrern & Co. in Gang gesetzt –, um die Stadt lebenswerter, abgasärmer und dank Verschattung durch den zunehmenden Baumbestand örtlich auch ein paar Grad kühler zu machen. Ins Auge fällt zunächst, dass viele Straßen nicht mehr die übliche Bordüre bräsig parkender Blechkarossen aufweist – auch nicht die vielspurige Avenue de Champs-Elysées, jene berühmte, aber großteils zur langgezogenen Shopping-Mall degradierte Prachtstraße.

Bis 2026 – hier endet Hidalgos zweite Amtszeit, sie will kein drittes Mal kandidieren – soll die Zahl öffentlicher Autostellplätze im Stadtgebiet von 140.000 auf 70.000 halbiert sein. Der Gedanke: Wer keinen Parkplatz findet, fährt mit Bahn, Nahverkehr oder Fahrrad in die Stadt. Verbleibende Innenstadt-Parkplätze sind vorrangig für Anwohner, Geschäfte, Lieferanten und Menschen mit Behinderung reserviert.
Besonders massiv geht Hidalgo gegen SUVs vor: Per Volksentscheid verdreifachten sich deren Parkgebühren im öffentlichen Raum. Anwohner, Handwerker und Menschen mit Behinderung sind ausgenommen.
Baumbestand statt Blechbordüre
Den Platz parkender Autos sollen, ebenfalls bis 2026, 170.000 zusätzlich gepflanzte Bäume einnehmen. Die Zahl wurde als bloße Symbolpolitik kritisiert, erwartet Paris doch im gleichen Zeitraum 170.000 Geburten. Aber die Marke von 100.000 hat die Stadt bereits geschafft, allein im Winter 2023/2024 kamen 40.000 hinzu. Das Ziel liegt also in Reichweite – und wirkt im Vergleich zu Singapurs „One Million Trees Project“ ohnehin fast moderat.

Zeitgleich ließ Hidalgo – beflügelt durch geändertes Mobilitätsverhalten zu Corona-Zeiten – über 1.000 Kilometer Fahrradwege anlegen bzw. ausbauen, bis 2026 sollen nochmals 180 dazukommen. Für Anwohner ebenso reizvoll wie für den touristischen Flaneur: Auch den Platz für Radwege zwackt die Stadt nicht den Trottoirs ab, sondern dem Autoverkehr. Bekanntestes Beispiel dafür ist die zentral gelegene Rue de Rivoli, Beispiele findet man aber auf Schritt und Pedaltritt.

Wo ein Wille ist, da ist auch ein Radweg
Überall in der Pariser Innenstadt stößt man auf Baustellen, die Autospuren zu bidirektionalen Fahrradwegen oder aber zu Alleen mit Radweg umwandeln. Meist trennen solide Randsteine den Fahrrad- vom Autoverkehr – anders als in Deutschland, wo man gerne einfach weiße Linien auf Gehweg oder Straße malt und dann hofft, dass das schon irgendwie gut gehen wird.

Dass diese Separation in Paris oft mit Aufforstung einhergeht, erfüllt also einen doppelten Zweck: Verkehrsinseln mit Baumschatten vereinen Klimaschutz und Verkehrssicherheit.

Parallel dazu entstehen Tausende Fahrrad-Stellplätze – auch dies förderlich für das friedliche Miteinander von Fußgängern und Radlern.
Ungewohnt für Besucher aus deutschen Landen: In Paris gilt abseits einiger Hauptverkehrsadern Tempo 30. Meiner Kurztrip-Impression nach hält sich längst nicht jeder daran. Dennoch floss der Autoverkehr meist entspannter, als ich das von hiesigen Städten kenne.
Mehr als einmal fiel mir am Café-Tisch vor Überraschung fast das Croissant aus der Hand: Da bremsten Autos tatsächlich ab, damit ein Fußgänger bei Rot die Straße überqueren konnte – erklärt das mal einem Münchner SUV-Fahrer!
Und immer wieder stößt man in der Innenstadt auf verkehrsberuhigte oder autofreie Areale. Laut Medien sind es bereits über 200 der ca. 6.000 Pariser Straßen, vor allem rund um Schulen. Denn Hidalgo weiß: Für Rückhalt in der Bevölkerung braucht es den klaren Fokus auf die Gesundheit und Sicherheit der Anwohner. Der prominenteste Fall einer Straßenumwidmung ist allerdings – ganz ohne Schulen – das Seine-Ufer: vormals Stadtautobahn, nun Freizeit- und Flaniermeile.
Eingebettet ist all dies in zahlreiche weitere Maßnahmen, etwa Tempo 50 auf dem Autobahnring rund um Paris, auf dem nun zu Stoßzeiten eine Fahrspur für Fahrgemeinschaften und Busse reserviert ist, oder das Verbot von Dieselfahrzeugen ab 2027 und Verbrennern generell ab 2030. Hinzu kommen Pläne für eine „15-Minuten-Stadt“, um Dinge des täglichen Bedarfs für möglichst alle in maximal einer Viertelstunde Fußweg erreichbar zu machen, und nicht zuletzt der Ausbau des Metronetzes um ca. 200 Kilometer, um das Umland besser anzubinden.
Kritik aus den Vorstädten
Denn Kritik an Hidalgos Vorgehen kommt nicht nur von der Autoindustrie, Taxifahrern und Anwohnern, die um bequemes Parken fürchten: Auch Pendlern aus den Vorstädten fehlt es oft an Enthusiasmus. Schließlich hinkt der Ausbau des Bahn- und U-Bahnnetzes wenig überraschend der vergleichsweise zügigen Straßenumwidmung hinterher.
Im Stadtgebiet selbst hingegen scheint man Hidalgos Vorgehen zu billigen: Bei einem erneuten Volksentscheid sprachen sich jüngst zwei Drittel dafür aus, weitere 500 Straßen von Autos zu befreien.

Kritiker bemängelten, dass die Wahlbeteiligung bei müden vier Prozent lag. Dies zeuge von Ablehnung. Wir sprechen hier aber immerhin von jenem gallischen Volk, das einst die Bastille stürmte und seither bei Protesten wenig zimperlich agiert (#Gelbwesten).
Wäre Hidalgos Kurs tatsächlich unbeliebt, wie manche Kritiker es nahelegen: Bei dieser Abstimmung hätte sie einen Denkzettel kassiert. Wütende Proteste der Taxifahrer, die wir in Paris erlebten, richteten sich allerdings nicht gegen die Bürgermeisterin, sondern gegen eine landesweite Kürzung des Tarifs für Krankentransporte sowie gegen die Konkurrenz durch Uber & Co.

Taxis fahren auf der Champs-Elysées wild hupend parallel im Schneckentempo, um gegen die nationale Krankenkasse und Vermittlungsdienste wie Uber zu protestieren.
Flanieren statt flambieren
Natürlich gibt es nach wie vor Widerstand gegen Hidalgos Politik. Aber anscheinend haben die meisten in Paris verstanden (oder zumindest schulterzuckend akzeptiert): Die heimatliche Bratpfanne muss im Klimawandel dringend runter von der Herdplatte. Und das heißt eben auch: Wer sich im Sommer – insbesondere wenn diese Sommer tendenziell immer heißer werden – innerhalb der Innenstadt fortbewegen muss, sollte möglichst Metro fahren oder baumbeschattet radeln oder gehen, statt in sengender Hitze auf Asphalt im Stau zu stehen und dadurch das Klima weiter aufzuheizen.

Paris 2025: Der Radfahrer (im Anzug!) hat selbst zur Stoßzeit freie Fahrt – und Baumschatten.
Die Wende von grau zu grün und vom autoverliebten zum multimodalen Stadtverkehr ist angesichts der Überhitzung unserer Städte, wie es im Deutschen so schön heißt, „alternativlos“. Wir sollten dringend unsere Vorurteile gegen die urbane Mobilitätswende abbauen. Denn wir haben keine 99 Jahre mehr Zeit – Paris gibt sich zur Umsetzung von Hidalgos Plänen sogar nur noch eines.
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Fotos: Renate Trujillo (Titelbild, erstes Bild im Text), Dr. Wilhelm Greiner (die übrigen Bilder)
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