„Und wann wird sie kommen? Im dritten Quartal“, verkündete Nabil Bukhari, CTO/CPO (Chief Technology/Product Officer) von Extreme Networks, wiederholt und stolz auf der Kundenveranstaltung Extreme Connect Mitte Mai in Paris. Denn nach zweijähriger Entwicklungsarbeit wird Extremes neue „Platform One“ für das KI-basierte Netzwerkmanagement bald allgemein verfügbar. Platform One soll die Grundlage liefern für den KI-beschleunigten, letztlich sogar autonomen Netzwerkbetrieb.
Die Extreme-Entwickler haben einen extrem trockenen Sinn für Humor. Als Technikchef Bukhari die KI-Schützenhilfe der Platform One in seiner Keynote auf einem Live-System vorführte, erinnerte manch ein Demo-Account an kürzlich verstorbene Prominente: pfrancis-macbook (Pope Francis, also Papst Franziskus, † 21.04.25), gforeman-macbook (Boxweltmeister George Foreman, † 21.03.), vkilmer-lenova (Schauspieler Val Kilmer, † 01.04.) und ghackman-macbook (Schauspieler Gene Hackman, † ca. 18.02.). Sollte also Filmstar Hackman, Ende Februar samt Ehefrau und Hund tot in seinem Haus aufgefunden, sogar posthum noch WLAN-Probleme haben? Tja, wer weiß.
Selbst in makabren Testkonten-Namen steckt ein Körnchen Wahrheit. Schließlich soll es künstliche Intelligenz (KI) unter anderem ermöglichen, die Massen laufend anfallender Telemetriedaten zügig zu analysieren und so die „Leichen im Keller“ des Netzwerks zu finden – seien es schleichende Performance-Verschlechterungen, eindringende Angreifer oder verwaiste Nutzerkonten, sogenannte Zombie-Accounts.
Statistische Analyse mit maschinellem Lernen (ML) aber ist im AIOps-Markt (Artificial Intelligence-based Operations, KI-gestützter IT-Betrieb) längst ein alter Hut. Als schick und hip hingegen gilt alles, was mit GenAI (generativer KI) zusammenhängt: also etwa KI-Assistenten, die man per Chat oder Sprachbefehl zur IT-Umgebung befragen kann, oder KI-Agenten, die die Vorgaben (Prompts) des Administrators selbsttätig umsetzen.
Menschen bleiben eingebunden
Laut Fachleuten ist AIOps allerdings, allen derzeit hör- und lesbaren Marketing-Sprüchen zu Trotz, ein komplexes Unterfangen. Das Problem: Die künstlich intelligenten Helferlein fangen bei Kontextmangel an, wild zu halluzinieren. Um dies zu vermeiden, wollen die aufwendig trainierten Basis-Sprachmodelle in der Regel nochmals aufwendig mit den Asset-, Telemetrie-, Nutzer- und weiteren Daten des jeweiligen Fachkontextes trainiert bzw. angepasst sein.
Und weil dann immer noch das Restrisiko forsch formulierter Fehlinformation besteht, gilt es, weiterhin ein menschliches Auge auf die KI-Ergebnisse zu werfen, bevor man Aktionen anstößt, in Fachkreisen „Human in the Loop“ genannt: Der Mensch bleibt Bestandteil der Entscheidungskette.
Um im AIOps-Rennen möglichst weit vorn zu liegen, haben die großen Netzwerk-Player ihre Portfolios in den letzten Jahren durch Zukäufe ergänzt, Cisco zum Beispiel im März 2024 per Akquisition des Datenanalyse-Spezialisten Splunk, HPE unter anderem 2017 durch den Kauf der InfoSight-Technologie von Nimble Storage. Auch Junipers KI-Netzwerkplattform mit dem für deutsche Ohren gewöhnungsbedürftigen Namen „Mist AI“ (engl. mist = Nebel) wäre sicher eine gute Ergänzung für HPE, sollte die seit 2024 geplante, aber per Klage verzögerte Akquisition noch klappen.
Extreme Networks hingegen, bereits vor Jahren durch diverse Übernahmen stark gewachsen, entschied sich, AIOps selbst auf die Beine zu stellen und hierfür, wie man in den USA sagt, „die Extra-Meile zu gehen“. (Der US-Amerikaner nutzt ja nicht das metrische System und muss deshalb eine zusätzliche Meile bewältigen, während jenseits der USA ein Kilometer genügt hätte.)
Das Ergebnis von zwei Jahren Entwicklung – laut Extreme mit über 130 Pilotkunden – konnte Nabil Bukhari nun in Paris präsentieren: Platform One ist eine Netzwerkmanagement-Plattform, in die KI-Funktionalität bereits ab Werk „eingebacken“ ist. Das soll den Anwenderunternehmen nicht nur KI-Trainingsaufwand ersparen, sondern Alltagsabläufe des IT-Teams mittels KI-Assistenten und -Agenten drastisch beschleunigen. Extreme verspricht, den Zeitaufwand um bis zu 98 Prozent zu verkürzen: Dieser sinke „von Tagen auf Stunden, von Stunden auf Minuten“, so ein weiteres Mantra Bukharis.
Administrationsplattform mit integrierter KI
Extreme demonstrierte in Paris Chat-Kommunikation mit dem integrierten KI-Assistenten von Platform One. Teil des Konzepts ist aber auch Agentic AI, also der Einsatz von KI-Werkzeugen, die vorgegebene Aufgaben autonom erledigen (siehe Bild oben). Dies soll dem IT-Team noch mehr Zeit und Aufwand sparen. Der KI-Agent erbt dabei die Berechtigungen des Benutzers, kann also nur ausführen, was dieser ebenfalls darf. Vor Aktionen holt er das OK des Nutzers ein.
Ein Beispiel: Ein neuer Mitarbeiter soll Zugriff auf die Applikationen seiner künftigen Abteilung erhalten. Auf die Vorgabe des Administrators hin, so Nabil Bukhari, ermittle Platform One die Rolle des Mitarbeiters und die Softwareausstattung der Abteilung, davon abgeleitet die Zugriffsrechte des Neuen. Dann richte sie all dies so ein, dass die Angriffsfläche gemäß Zero-Trust-Prinzipien minimal bleibt.
Nach seiner Keynote zeigte Bukhari – ein Entertainer, gefangen im Körper eines CTOs – an den Demo-Ständen im Foyer des Events als spontanes „one more thing“ à la Steve Jobs einen weiteren anschaulichen Einsatzfall: Hier lautete der Prompt, einen per Plan vorgegebenen Raum Performance-optimiert mit WLAN-Access-Points auszuleuchten. Auch diese Aufgabe meisterte die KI in kürzester Zeit. „Und wann kommt das?“, fragte der CTO die Umstehenden in der Manier eines motivierenden Mittelstufen-Mathelehrers und erinnerte sie: „Im dritten Quartal!“ Gemeint ist übrigens das kalendarische dritte Quartal, nicht das Q3 des Extreme-Geschäftsjahrs.

Nabil Bukhari, CTO und CPO
von Extreme Networks.
Ziel: autonomer Netzwerkbetrieb
Fluchtpunkt der AIOps-Entwicklung, das betonte Bukhari, sei das autonome Netzwerk – obschon Extremes Wettbewerber sich nicht trauen würden, dies zuzugeben. „Vergesst die anderen Anbieter“, sagte er, „die haben Angst.“
In der Tat sprechen viele Marktteilnehmer lieber vom „absichtsbasierten“, „prädiktiven“ oder „präskriptiven“ Netzwerk. Denn AIOps hat auch ohne das Schreckgespenst „autonome KI“ schon mit Vorbehalten der Kundschaft zu kämpfen, KI werde nicht nur Arbeitsschritte erleichtern, sondern auch Arbeitsplätze kosten. Angesichts der aktuellen und künftig wohl eskalierenden Personalnot in den IT-Abteilungen wäre aber wohl durchaus zu wünschen, dass der IT-Betrieb weniger Personal erfordert – und dass der Level-1-Support dank Unterstützung durch KI-Assistenten auch Level-2-Aufgaben übernehmen oder diese gar an KI-Agenten delegieren kann.
Später – und nüchterner als sein Kollege Nabil – erläuterte mir Markus Nispel, CTO EMEA und Head of AI Engineering bei Extreme Networks, im Gespräch Einzelheiten zu Platform One. Der Deutsche, der einst durch Extremes Akquisition des Wettbewerbers Enterasys zum Unternehmen kann, gehört inzwischen zum „Office of the CTO“, also dem kleinen Kreis strategischer Vordenker des US-Unternehmens.
Data-First-Plattform
Von einer „Plattform“ spricht Extreme laut Nispel, weil Platform One darauf ausgelegt sei, Daten aus unterschiedlichen Quellen zu normalisieren und auch externe Systeme integrieren zu können. Hierfür umfasse der „AI Core“ der Plattform drei Ebenen: Data Hub (Datendrehscheibe), Service- und Orchestrierungsebene. Denn, so Nispel: „Wenn jemand sagt, er habe eine ‚AI-First‘-Plattform, dann muss es eine ‚Data-First‘-Plattform sein.“
Das Anwenderunternehmen muss die KI-Assistenten und -Agenten von Platform One laut Nispel weder anpassen noch trainieren. Denn Extreme habe Common Services entwickelt, die Daten quer durch das Portfolio aggregieren und normalisieren. Der Data Hub reiche dann die Daten nach Bedarf an die KI weiter.

Markus Nispel (im Bild links) zeigte bei einer Podiumsdiskussion mit Vertretern von Microsoft und Intel Extremes kommende AI Exchange, die als „Service-Katalog“ für KI-Agenten dienen soll.
Allmähliche Erweiterung
Netzwerkumgebungen sind selten herstellerspezifische Monokulturen – das weiß man auch bei Extreme. Deshalb plant der Netzwerker, die KI-Unterstützung über das eigene Portfolios hinaus auszubauen. „Es gibt Plattformen und es gibt Ökosysteme“, sagte Nabil Bukhari im Interview. „Der Weg nach vorn ist: Anbieter versuchen, erst Plattformen für ihre Produkte und dann zusammen mit ihren Partnern ein Ökosystem zu schaffen.“
„Der AI Core enthält nicht nur Daten zu Switching, Routing, WLAN und SD-Branch, sondern auch zu Security sowie künftig zu Drittsystemen, die wir integrieren werden“, sagt Markus Nispel. Den Anfang macht Intel: „Dank unserer Partnerschaft mit Intel werden Endgeräte mit Intel-WiFi-Chips in Kürze Daten an Platform One liefern“, so Nispel. Dies soll den Durchblick im Netzwerk verbessern und die Fehlersuche beschleunigen.
Ein Anwenderunternehmen könne hier in Zukunft hausinternes Wissen einbringen, etwa Dokumentationen, Verträge oder Lizenz- und Asset-Informationen. So könne Extremes KI dann Antworten selbst auf rechercheaufwendige Fragen liefern, beispielsweise: „Welche WLAN Access Points muss ich tauschen, damit all unsere APs WPA-3-fähig sind?“
Die Integration der Datenquellen von Anwenderunternehmen sei allerdings bislang noch nicht möglich. „Das ist unser Ziel, wird aber erst mittelfristig kommen“, räumt Nispel ein. Denn diese Art von Datenintegration sei „tricky business“ – eine vertrackte Angelegenheit. Genau diese unternehmensindividuelle Nutzbarkeit aber ist laut den beiden Extreme-Vordenkern das Ziel des KI-getriebenen Netzwerkmanagements – siehe die Beispielfrage nach den WPA-3-fähigen Access Points im Unternehmen.
Der Grundstein für KI-gestützte Automation des Netzwerkbetriebs ist somit gelegt – doch für die unternehmensspezifische Anpassung gilt das, was mein eigener Mathematiklehrer in der Mittelstufe gern auf allzu vorauseilende Fragen zu antworten pflegte: „Das kriegen wir später.“
Besagter Mathelehrer hat wohl ebenfalls schon längst das Zeitliche gesegnet. Wahrscheinlich sitzt er inzwischen auf einer Wolke, zupft seine Harfe und hat WLAN-Probleme. Denn bis zum himmlischen Zustand dauerhaft störungsfreier Vernetzung ist es eben noch ein weiter Weg, ob in Meilen oder in Kilometern gerechnet.
Doch Extreme Networks hat die arbeitsaufwendigen ersten Schritte getan und nimmt nun Kurs auf das autonome Netzwerk. In unseren schnelllebigen Zeiten eskalierenden Fachkräftemangels und wütend brandender Angriffswellen scheint dieses Ziel durchaus erstrebenswert. Der Nutzer mit dem Konto kcobain-macbook würde es wohl das Nirvana nennen – auch wenn sein Kollege humanintheloop-macbook weiterhin Bedenken äußert, bis er eines Tages, wütend seine Harfe zupfend, auf eine einsame Wolke verbannt wird.
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Bilder: (c) Dr. Wilhelm Greiner
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