Lesetipp: Die Entschleichung der IT

Mit Weihnachten ist es wie mit Microsofts Patch-Day: Es überfällt einen plötzlich und unerwartet. Mit dem Unterschied, dass Microsoft am Patch-Day seine Kunden mit bunten Security-Heftpflastern beschenkt, während man sich um Weihnachtspräsente selber kümmern muss. Für alle, die auf den letzten Drücker nach Verschenkbarem für IT-Interessierte suchen, hätte ich da einen Tipp.

„IT ist ein Schleicher“, formuliert es Dr. Jürgen Müller griffig in seinem Buch „Zeitenwende: Wie die IT unsere Welt verändert“. Gemeint ist: Informationstechnologie ist nicht mit einem „Big Bang“ in unser Leben getreten, sondern schleichend, wie Plastikverpackungen, Zuckerzusätze in Lebensmitteln oder Friedrich Merz.

Inzwischen sind so ziemlich alle unsere Lebensbereiche von IT durchwoben, durchwachsen oder durchwabert, von A wie Arzttermin bis Z wie Zocken. Da lohnt es sich, einen Schritt zurück zu machen (besser zwei, drei oder vier), um etwas Abstand für den Blick auf das große Ganze zu gewinnen. Eben jenes „Big Picture“ zeichnet Müller – ein Geisteswissenschaftler, der sein Leben als Manager in der IT-Branche verbrachte – in seinem zeitenwendigen Sachbuch.

Müller macht das Einschleichen der IT sichtbar und zeigt mit routiniertem Pinselstrich, wie weit es bereits vorangeschlichen ist. Sein Überblicksblick wandert quer durch unseren Alltag, von unserem Alter-Ego-Leben auf den angeblich sozialen, aber allzu häufig asozialen Plattformen über die Demokratisierung des Wissens per Internet bis zum Online Dating, zu Chatbots und Menschen, die Chatbots online daten.

Der gelernte Historiker und Politikwissenschaftler illustriert, wie IT mit allen ihren Licht- und Schattenseiten zur „Weltmacht“ aufsteigen konnte. Seine Linienführung umreißt die Transformation der Wirtschaft mit Gig Economy und Industrie 4.0 ebenso wie das digitale Wettrüsten in Zeiten hybrider (also realer ebenso wie digitaler) Kriegsführung. Es geht um Plattformökonomie und Cyberkriminalität, Darkweb und Metaverse.

All dies skizziert er pointiert und anschaulich. So begegnet uns zum Beispiel der Stand der Technik hiesiger Anbindung an das Internet in Form „einer als hochmodern angepriesenen, alten Kupferleitung (im Markting-Jargon als VDSL bezeichnet)“.

Angenehmerweise geht es Müller um eine ausgewogene Darstellung. Er schreibt nicht einseitig IT-verliebt, verteufelt aber auch nicht – nicht einmal dort, wo der Autor dieser Zeilen gerne mal zum teuflischen Werkzeug böser Satire greift.

Höchst umstritten ist derzeit beispielsweise die Frage, in welchem Maße künstliche Intelligenz (KI) menschliche Tätigkeit ersetzen kann und wird. Über einen per KI automatisierten Prozess für das Bewerbermanagement urteilt Müller: „Wer selbst schon mal für einen Job interviewt wurde und sich über schlecht vorbereite Gesprächspartner geärgert hat, mag durchaus offen sein für den Dialog mit einem KI-System.“ KI, so lernen wir, muss nicht schlecht sein, nur weil ChatGPT häufig hanebüchen halluziniert.

Zugleich legt der Autor aber auch immer wieder den Finger in von der IT gerissene offene Wunden, so etwa bei der Regulierung des mittels IT Machbaren. Die Grundproblematik hier, so Müller: „Das Universum des Cyberspace expandiert sehr viel schneller als das Irdische der Legislativen.“

Müllers „Zeitenwende“ leistet damit wertvolle Hilfestellung, um die Allgegenwart der IT nicht nur stumpf konsumierend hinzunehmen, sondern zumindest gelegentlich kritisch zu hinterfragen. Dieser kritische Blick war – vorweihnachtlicher Friede-Freude-Eierkuchen-Kitsch hin oder her – noch nie so wichtig wie heute. Denn ohne ihn entschleicht uns die schleichende Machtübernahme der IT.

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Bildquelle Titelbild: Springer/Dr. Wilhelm Greiner
Cartoons: (c) Wolfgang Traub