KI-Swifties

Die Musikindustrie hat Taylor Swift, die IT-Branche hat Jen-Hsun Huang. Wie Legionen begeisterter Fans – „Swifties“ genannt – ihr Popmusik-Idol umschwärmen, so stehen vor der Tür des Nvidia-CEOs zahllose IT-Anbieter Schlange (sind das dann „Huangies“?). Denn eine Kooperation mit Nvidia gilt heute als Eintrittskarte in eine Welt, in der künstliche Intelligenz (KI) so ziemlich alle Abläufe vereinfachen und so ziemlich alle Probleme lösen soll. Es ist eine Welt hoher Umsätze – und hoher Risiken.

„KI“ ist das neue „IT“. Seit Jahren verspricht der Begriff „Digitalisierung“, dass künftig IT-Komponenten in allem außer Tiernahrung werkeln, um die Bausteine unseres Alltags „smart“ zu machen. („Smart“ heißt wörtlich übersetzt „schlau“, laut Security-Fachmann Mikko Hyppönen hingegen „angreifbar“. Aber ich schweife ab.)

Wildest Dreams: Was KI alles leisten soll

Smart reicht heute nicht mehr. Die IT-Industrie träumt davon, dass besagte Bausteine „intelligent“ werden, genauer: künstlich intelligent. Das Mantra der Branche: Die KI wird’s schon richten!

Aus ein paar einfachen Sätzen umfangreiche Texte erstellen? KI.
Umfangreiche Texte zum besseren Verständnis wieder auf ein paar einfache Sätze eindampfen? KI.
Bilder, Musik und Videos generieren? KI. 
Tumore auf CT-Scans identifizieren? KI.
Nur noch schnell die Welt retten? KI.

In selbiger Welt führten einst alle Wege nach Rom, heute enden sie in Santa Clara, am Hauptsitz von Nvidia. Denn die Firma des taiwanisch-amerikanischen Entrepreneurs Jen-Hsun (anglisiert: Jensen) Huang fertigt Grafikprozessoren (GPUs), genauer: lässt sie von Zulieferern fertigen. Diese GPUs hatten Huangs Firma einst groß gemacht, war es doch Nvidias Prozessorpower, die der Gaming-Industrie 3D-Flügel verlieh. Später stellte sich heraus, dass sich KI-Modelle mit GPUs viel effizienter und schneller trainieren und betreiben lassen als mit Feld-Wald-und-Wiesen-CPUs. Da war Nvidia genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort: an der Startrampe der KI-Rakete.

Diese Rakete rast längst schon durchs IT-Weltall. Im aktuellen Gartner Hype Cycle der KI-Technologien hat Computer Vision (KI-gestützte Auswertung von Bilddaten) sogar schon das finale „Plateau der Produktivität“ erreicht. In der Tat ist es heute so alltäglich, das Smartphone per Gesichtsscan zu entsperren, dass wir das kaum mehr als komplexe KI-Aufgabe wahrnehmen. In unserer KI-raketengetriebenen Zeit ist es ein kurzer Parabelflug vom augenreibenden „Wow“ zum schulterzuckenden „Hauptsache, es funzt“.

Love Story: Der Parabelflug des KI-Jubels

Eine KI, die selbsttätig Neues schafft (Generative Artificial Intelligence, GenAI), darunter ChatGPT oder auch Midjourney, folgte in den letzten Jahren einer geradezu idealtypischen Masseneuphorie-Parabel. Inzwischen hat sie in Gartners Hype-Kurve bereits den „Gipfel überzogener Erwartungen“ passiert und stürzt damit gerade ab ins „Tal der Ernüchterung“, die Vorhölle des Dann-letztlich-doch-Produktiveinsatzes.

Schließlich hat sich seit dem ChatGPT-Launch Ende November 2022 nach anfänglichem Jubel auf Swiftie-Level schnell herumgesprochen: Trainiert man eine KI mit Inhalten (inklusive Bullshit) aus dem Internet, dann erhält man Resultate mit beachtlichem Bullshit-Koeffizienten. Und obendrein Massen anzüglicher Fake-Bilder von Taylor Swift.

Trotz gegenteiligen Anscheins: Ein KI-befeuerter Chatbot wie ChatGPT denkt nicht, sondern reiht schlicht das jeweils wahrscheinlichste Wort ans andere. Dabei zeigt er mitunter erstaunliche Improvisationsfreude, in Fachkreisen „Halluzinationen“ genannt: Fehlt dem Chatbot benötigter Kontext, ist es ein kurzer Parabelflug vom augenreibenden „Genial, was die KI alles weiß“ zum schulterzuckenden „Na ja, es klang zunächst plausibel“.

Für Unternehmen aber sind halluzinierende KIs ebenso wenig zu gebrauchen wie die Idee, all ihre Interna zu KI-Trainingszwecken in Hyperscaler-Clouds zu kippen. Deshalb ist in der IT-Branche ein Wettlauf ausgebrochen, um KI auf unternehmenstauglichen Kurs zu bringen.

You Belong With Me: Partnersuche in der KI-Welt

Werfen wir einen Blick auf Pressemitteilungen der letzten Monate und schauen wir, ob wir ein Leitmotiv finden:

„Microsoft und Nvidia kündigen umfangreiche Integration an, um generative KI für Unternehmen überall zu beschleunigen“
„AWS und Nvidia kündigen strategische Zusammenarbeit an, um neue Supercomputing-Infrastruktur, Software und Services für generative KI anzubieten“
„Google Cloud und Nvidia erweitern Partnerschaft zur Skalierung der KI-Entwicklung“
„IBM treibt in Zusammenarbeit mit Nvidia die Einführung von KI auf großem Maßstab voran“
„VMware und Nvidia machen generative KI zugänglich“
„Dell Technologies und Nvidia zünden Turbo für KI-Einführung“
„Nutanix und Nvidia arbeiten gemeinsam an schnellerer Verbreitung von KI in Unternehmen“
„NetApp und Nvidia zeigen, wie Unternehmen sicher mit ihren Daten kommunizieren“

Merkt ihr selber, ne? Kein Wunder, dass Nvidia den Börsenspekulanten vor Microsoft und Apple als wertvollster Konzern der Welt gilt (zumindest Stand 19.6., sowas ist ja volatil).

Neuestes Andockmanöver von Nvidias KI-Kooperationsmission: Auf der HPE-Kundenveranstaltung Discover in Las Vegas teilte sich CEO Antonio Neri die Keynote-Bühne nur allzu gerne und auffällig lang mit Jen-Hsun Huang, um die gemeinsame Entwicklungs- und Vermarktungsarbeit zu präsentieren, mit der HPE die Unternehmenswelt KI-fizieren will.

Fluchtpunkt all dieser Manöver: „AI inside“ soll in Unternehmen so alltäglich werden wie das „Intel inside“ einst in den Flegeljahren der Digitalisierung. In der Tat steckt enormes Potenzial im Einsatz unternehmensspezifischer KI-Modelle – dies übrigens, geht es nach IT-Ausrüstern wie HPE, auf Hardware im Unternehmensnetz statt in einer Hyperscaler-Cloud.

Dazu trainiert man generative KI mit Unternehmensdaten und adaptiert sie mittels Verfahren wie RAG (Retrieval-Augmented Generation) für die jeweilige Organisation. Das eröffnet eine Fülle von Möglichkeiten. Diese reichen von Alltäglichem wie Bots, die für Kunden oder Beschäftigte schnell Informationen aufstöbern und konsolidieren, bis hin zu branchen- oder einsatzspezifischen Fällen, z.B. individuellen jährlichen Mitarbeiterbewertungen, die ein Vorgesetzter nun ruck-zuck mit ein paar Vorgaben (Prompts) erstellen kann.

Cruel Summer: Uns stehen heiße Zeiten bevor

Die sonnige neue Welt der künstlichen Intelligenz hat dummerweise auch Schattenseiten. Eine kleine Auswahl:

  1. KI-Assistenten funktionieren nur gut, wenn sie, wie einst der Butler im Herrenhaus, alles über uns wissen. Nur dass der KI-Butler unsere Daten hinter unserem Rücken weiterverkauft.
  2. Beschäftigte und Konsumenten können KI-Inhalte im Handumdrehen erzeugen, aber eben auch Kriminelle und Propagandisten. Lügen haben schon dank des Internets keine kurzen Beine mehr, dank KI haben sie nun Siebzigmeilenstiefel.
  3. Ist generative KI einmal so ausgereift, dass sie fast immer richtig liegt, werden wir Menschen uns bald blind auf sie verlassen – da kannste jeden Psychologen fragen. Das wird bunteste Blüten treiben, von Haustierbesitzern, die ihre Lieblinge nur noch mit Gummibärchen füttern, weil eine halluzinierende KI dazu riet, bis zu [hier Horrorszenario nach Wahl einfügen oder ChatGPT eines erstellen lassen].
  4. Nvidia betont, die kommende GPU-Generation Blackwell sei 25-mal energieeffizienter als die jetzige, zudem wird es künftig sicher sparsamere Modelle geben. Dennoch bedeutet „KI überall“: Energieverbrauch und CO2-Ausstoß der globalen IT werden eskalieren. KI-Marketiers betonen, KI werde zum Kampf gegen die Klimakrise beitragen. In der Tat. Aber pro klimafreundlichem KI-Forschungsprojekt posten Millionen Nutzer KI-generierte Katzenvideos.
  5. Quasi-Monopole sind nicht unbedingt ideal, das lehrt uns die IT-Geschichte (#IBM, #Microsoft). KI-Sonne Nvidia lässt ihre Chips beim Trabanten TSMC in Taiwan fertigen. Mag auch Nvidia daran arbeiten, die Lieferkette zu diversifizieren: TSMC hat laut Fachleuten bei Produktion und Packaging von High-End-Chips einen Vorsprung. Der Dreh- und Angelpunkt der KI-Industrie liegt somit an einem Ort, auf den die zunehmend säbelrasselnde Supermacht China ihr Wiedereinverleibungsauge gerichtet hat.

I Knew You Were Trouble: Die Risiken der KI-Lieferkette

Wenn’s blöd läuft, steht die KI-Branche eines Tages da wie ein Stadion voller Swifties, deren Idol vor ihren Augen von der Bühne stürzt. Aber keine Sorge: Dank KI kann man heute im Handumdrehen viele virtuelle Taylor Swifts generieren, die fröhlich ihre Schlager trällern und sogar neue, garantiert naturidentische generieren. Die Show muss – und wird – weitergehen.

Lassen wir also Umsicht walten beim Einsatz künstlicher Intelligenz, nicht nur der Umwelt zuliebe, sondern auch, um uns nur so weit wie nötig von KI abhängig zu machen. Bleiben wir misstrauisch bei KI-generierten Inhalten. Entflechten wir Lieferketten. Und hoffen wir, dass der Parabelflug der KI-Rakete nicht endet wie so manche Beziehung in einem Taylor-Swift-Song: mit einem Crash.

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Bild: Nvidia-CEO Jen-Hsun Huang auf der Keynote-Bühne der HPE Discover in Las Vegas.
Bildquelle: HPE Live-Stream