Schneewittchen und die sieben Chatbots

Es war einmal eine junge Frau namens Witholda, die schnupfte dermaßen viel Kokain, dass alle sie nur das „Schneewittchen“ nannten. (Die Story vom vergifteten Apfel kannst du deiner Oma erzählen, Prinzessin, wir haben dein Spieglein mit dem Glasröhrchen und dem weißen Pülverchen gefunden!) Sie knallte sich jeden Tag die Birne weg, bis sie nur noch komatös in der Ecke lag. Ihre sieben WG-Genossen hingegen schufteten tagein, tagaus im Bergwerk, denn irgendwer musste ja die Kohle für das Koks ranschaffen. Später machte sie dann einen Entzug und heiratete ihren Traumprinzen. Die Moral von der Geschicht: Das Leben kann märchenhaft sein, wenn man nur jegliche Arbeit konsequent delegiert. Leider ließ sich bislang neben Essen, Schlafen und Koksen auch das Denken nicht delegieren. Doch mächtige IT-Zauberer haben Abhilfe geschaffen: Das Denken übernimmt ab sofort die märchenhafte Welt der KI – und viele andere Aufgaben gleich mit.

Künstliche Intelligenz – vormals als bloßes Ammenmärchen oder bestenfalls ferne Science Fiction verspottet – findet neuerdings großen Widerhall beim hart arbeitenden Zwergenvolk. Eigentlich ist KI vielerorts schon seit Jahrzehnten am Werk, doch meist eher im Verborgenen: Sie beschleunigte Datenanalysen, verfeinerte Statistiken, präzisierte Suchergebnisse und trat höchstens alle Jubeljahre mal offen zutage, um irgendeinen Großmeister in irgendeinem Brettspiel von der Platte zu fegen.

Heute aber steht KI im Rampenlicht, vorrangig in Form verschiedener Spielarten generativer KI. Denn diese KI-Varianten erzeugen aus einigen wenigen Vorgaben ganze Texte, Bilder, Audio- oder gar Videodateien. Das sind natürlich viel bessere Hingucker als Algorithmen, die tief in dunklen Stollen dröge Statistiken aus dem Datenberg hämmern.

KI in der Mitte der Gesellschaft

„Die aktuellen Entwicklungen rund um generative KI sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt Dr. Stefan Ebener, Head of Customer Engineering bei Google Cloud. Google gilt seit Jahren als Vorreiter in Sachen KI. Letzten November 2022 jedoch stieß ein Startup den Konzern vom Thron – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung: OpenAI brachte damals, mit freundlicher Unterstützung des Google-Konkurrenten Microsoft, die Konversations-KI ChatGPT als öffentliche Betaversion auf den Markt. Der unhandliche Name des Cloud-Dienstes war bald in aller Munde. Seither liefern sich die KI-Größen – allen voran OpenAI/Microsoft und Google – einen vielbeachteten Wettlauf um die leistungsstärksten KI-Services. Diverse weitere Anbieter sind im Rennen, darunter Open-Source-Organisationen, aber auch deutsche KI-Spezialisten wie Aleph Alpha und DeepL.

Auf einer Online-Pressekonferenz erläuterte Google-Mann Ebener kürzlich, wie sich das Rennen aus Google-Sicht darstellt. Er sieht die neue KI-Generation als „Paradigmenwechsel“: „Zum allerersten Mal haben wir gigantisch große Modelle auf einem riesigen Textkorpus, die Aufgaben erledigen können, für die sie explizit nicht trainiert wurden. Und das verändert aktuell alles.“

Googles KI-Alchemisten brauen Algorithmen für Zwerg und Bergwerk: für Endverbraucher und Unternehmen. Auf Consumer-Seite gibt es neben der Google-Suche, die immer stärker auf KI-Analysen baut, auch Googles ChatGPT-Alternative Bard und die MakerSuite, eine Entwicklungsumgebung, die KI-Zaubereien erleichtern soll. Mit Googles Magic Eraser (magischer Radiergummi) wiederum kann man Personen und Objekte aus Bildern „herausradieren“, wenn zum Beispiel irgendein triefnasiger Touristenzwerg einem das Foto eines märchenhaft schönen Fachwerkhauses verschandelt hat. Das funktioniert wie von Zauberhand. Die Folge: In Google Photo werden laut Ebener 1,7 Milliarden Bilder pro Monat editiert.

Komplexe Geschäftsanforderungen

Im Unternehmenssegment hingegen, so der Google-Mann, gehe es nicht darum, das größte KI-Modell zu haben. Die Unternehmen wollen vorrangig hauseigene Informationsschätze heben. Da steht die Verarbeitung unternehmensinterner Daten und Begriffe im Fokus – und nicht zuletzt der Schutz der Kronjuwelen. Hier gilt laut Ebener: „Kontrolle über Daten, Erklärbarkeit und vor allen Dingen die Kosten sind entscheidende Kriterien für gute Modelle.“

„Wir wollen KI für alle Unternehmen, egal in welcher Größe, zugänglich machen“, betont der Google-Fachmann. Ziel seien „niederschwellige Services“, die auch ohne IT-Kenntnisse leicht zugänglich sind. Zum Aufbau von Unternehmens-KI-Applikationen bietet der Konzern mit Vertex AI eine Plattform für das Training von KI/ML-Modellen (ML: maschinelles Lernen). Zur Unterstützung der Beschäftigten wiederum umfasst Google Workspace den KI-Assistenten Duet AI. Dieser kann laut Ebener zum Beispiel E-Mail- oder Chat-Threads zusammenfassen, die während der Mittagspause aufgelaufen sind. So lasse sich schneller ermitteln, ob man Entscheidendes verpasst hat. (Spoiler: Hat man nicht.)

Fortschritte gibt es auch im visuellen Bereich: Heute zaubert KI laut Ebener 3D-Objekte anhand von nur sechs Fotos aus verschiedenen Perspektiven. So kann zum Beispiel ein Onlinehändler einem Prinzen ermöglichen, einen Schuh im Browser nahtlos aus allen Winkeln zu betrachten, um so die passende Braut zu finden. (Ach nee, stopp, falsches Märchen!)

Halluzinationen vermeiden

Beim KI-Einsatz im Unternehmen gilt es vor allem, das Abfließen von Interna ebenso zu vermeiden wie die Verbreitung anstößiger Inhalte. Und erst recht die bei ChatGPT & Co. so häufigen Halluzinationen. (Da gibt’s wohl noch jemanden, der gern mal ne Linie schnupft, hm?) Hier setzt Google auf drei Mechanismen: erstens Grounding, also die Modelle zu zwingen, ein Ergebnis ausschließlich anhand vorgegebener Quellen zu ermitteln; zweitens Extensions, also Entwicklerwerkzeuge, um KI-Basismodelle in Geschäftsabläufe einzubinden; und drittens Tuning, also die Option, das Basismodell mit Unternehmensinformationen anzupassen. Das Ergebnis, so Ebener, sei dann ein KI-Modell, das dem Unternehmen gehöre und in einer abgeschotteten Umgebung laufe.

Der Avatar auf der Website der Sparkasse Bochum veranschaulicht das Verfahren: Er kann in verschiedenen Sprachen erklären, wie man die PIN der Bankkarte ändert. Die Frage nach dem aktuellen Wetter in Bochum hingegen verweigert er mit dem Hinweis, dass er auf diese Daten nicht zugreifen kann.

Zahllose unternehmensspezifische KI-Einsatzfälle sind denkbar, betont Ebener. Die Otto Group zum Beispiel biete auf der Website KI-gestützte Hilfe für jedes Produkt mit über 50 Kundenbewertungen. Denn die Site-Besucher verbringen laut Otto die meiste Zeit mit Rezensionen anderer Kunden. Ein KI-Assistent analysiere diese und beantworte damit Fragen wie etwa: Was sind die Nachteile dieses Gefrierschranks?

Schiff und Schiffbruch

„Wer das Schiff erfindet, erfindet zugleich den Schiffbruch“, zitierte Ebener den französischen Kulturtheoretiker Paul Virilio. Denn die Leistungskraft von KI-Lösungen schafft neue Klippen, darunter nicht zuletzt die Schwierigkeit, Reales vom Märchen zu trennen. Beispiel: Ein Hotelkunde beschwert sich über Bettwanzen und fordert vom Reisebüro Schadenersatz, als Beweis schickt er ein Foto mit. Die Frage ist nun: Kann ein digitales Foto in KI-Zeiten noch als Beweis gelten?

Google führte deshalb laut Ebener als erster Cloud-Anbieter weltweit digitale Wasserzeichen für KI-generiere Bilder ein. Das Wasserzeichen sei für das menschliches Auge unsichtbar und extrem schwer zu entfernen. Zudem erweiterte Google die Metadaten, damit Ersteller Zusatzinformationen in Bilder einbetten können. Beides sei auf Google Cloud bereits verfügbar.

Offene, verantwortungsvolle und selbsterklärende KI

„Wir fördern ein offenes Ökosystem“, sagt Ebener, denn Google wolle Kunden nicht in die Abhängigkeit treiben. Im „Model Garden“ unterhalte man deshalb über 100 KI-Modelle, Google-eigene ebenso wie fremde und Open-Source-basierte, darunter Stable Diffusion von Stability AI, Llama von Meta, Anthropic Claude 2 etc. Denn das saubere Funktionieren der ML-Pipeline sei wichtiger als das einzelne Modell.

„Responsible AI“ (verantwortungsvolle KI) ist dabei laut Ebener „das größte Thema, das wir angehen müssen.“ Google arbeite hier mit „Safety Scores“, als technischen Hilfsmitteln zur Einstufung, um sicherzustellen, dass KI-Inhalte für den Einsatz taugen, etwa per Ausschluss von Hassrede oder anzüglichen Inhalten. Responsible AI ist allerdings derzeit noch sehr stark „work in progress“.

Als nicht minder wichtig dürfte sich künftig „Explainable AI“ erweisen, also eine KI, die nicht nur Ergebnisse liefert, sondern auch ihr Vorgehen erklärt. So könnten laut Ebener Versicherer KI-gestützte Bildanalyse nutzen, um Schadensersatzansprüche zu klären. Ein Sachbearbeiter könnte eine KI in natürlicher Sprache zu Unfallfotos befragen: Welche Automarke ist das? Wie hoch können die Gesamtkosten sein? Wie wahrscheinlich ist ein Personenschaden? Für die Akzeptanz der Antworten – seitens des Sachbearbeiters, aber auch des Versicherten, letztlich sogar für die Gerichtsverwertbarkeit – wird es allerdings künftig notwendig sein, dass KI-Anwendungen ihre Auskünfte nachvollziehbar herleiten. Auch hier gibt es noch viel Luft nach oben, wie der Google-Experte zugestand.

Die Mammutaufgabe, Probleme und Risiken des KI-Einsatzes in den Griff zu bekommen, will die Politik nicht der IT-Branche allein überlassen. Die EU arbeitet an Gesetzgebung, um KI-Risiken zu begrenzen, und jüngst hat US-Präsident Biden einen Erlass unterschrieben mit dem Ziel, KI besser zu regulieren. Schließlich gilt es beim Wechsel von manueller Zwergenkraft zu magischer KI-Alchemie, ein märchenhaftes Happy End sicherzustellen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann delegieren sie noch heute.“

Und nächstes Mal, liebe Kinder, erzählt euch der Märchenonkel dann die Geschichte von dem netten jungen Mann Sam, der stets vor den Risiken künstlicher allgemeiner (also menschenähnlicher) Intelligenz warnte, aber trotzdem fröhlich weiter an ihr forschte. Die Geschichte heißt „Der Zauberlehrling“.

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Bild: Dr. Wilhelm Greiner, KI-generiert mittels NightCafé