Mit der Bahn in die Horror-Ecke

Reiseliteratur, gerade zur Urlaubszeit ein populäres Genre, kann auf einen Promi-Urahnen verweisen: die Odyssee. Von dort führt eine direkte Linie – natürlich gestrichelt auf bunter Landkarte – zu Goethe, Heine, Tucholsky und weiter zu den zahllosen Reiseerzählungen à la „Mit dem Fahrrad um die Welt“, „Mit dem Motorrad durch die Sahara“, „Mit der Aktentasche durch Stuttgart“. In den sozialen Netzwerken sind Reiseschilderungen ein eigenes Subgenre. Beliebtes Intro: „Eigentlich bin ich ja Bahn-Fan, aber …“, gefolgt von einer Horrorgeschichte auf Schienen. Denn für einen rund laufenden Bahnverkehr scheint in Deutschland der Zug abgefahren.

Heinrich Heine absolvierte 1824 seine bekannte Harzreise zu Fuß. Denn die erste Eisenbahn fuhr hierzulande erst 1835, und so lange wollte er dann doch nicht auf den Zug warten. Heute müssen Bahnreisende diesen eisernen Wartewillen mitbringen: Laut Bahn-Angaben waren im Juli 2023 nur 64 Prozent der Fernzüge pünktlich. Was Bahn-Sprech ist für: „hatten höchstens fünf Minuten Verspätung“. Passagiere können also den Anschluss verpassen, weil der Zubringer „pünktlich“ war.

Noch so eine Pointe: Ausgefallene Züge rechnet die Bahn nicht mit ein. Denn ein gar nicht erst losgefahrener Zug, mag er auch noch so kurzfristig storniert sein, kann sich nicht verspäten – logisch, oder? Die wirklichen Werte des fahrplanmäßigen Bahnbetriebs liegen also noch näher am verlotterten Schotterbett.

Bahn-Binsenweisheit: Wer funktionierenden Zugverkehr erleben will, muss ins Ausland gehen. Hier wird gern die Schweiz genannt. Das Heimatland zwielichtiger Bankgeschäfte hat viel Geld in das weltweit dichteste, zudem fast vollständig elektrifizierte Schienennetz gesteckt. Dieses Ziel hatte das Zwergstaat-Bergvolk 1987 per Bergvolksabstimmung beschlossen. So fahren heute schweizer Züge im schweizweit integrierten Takt und die Durchsage bei Verzögerungen lautet: „Aufgrund eines verspäteten Zuges aus Deutschland …“.

AVE vs. ICE

Trotz aller Lobgesänge auf das schweizer Uhrwerk schweizer Züge: Meine bislang angenehmste Bahnfahrt – Vorsicht, Opa reminisziert! – führte durch Spanien. Genauer: mit dem Hochgeschwindigkeitszug AVE der spanischen Staatsbahn Renfe von Madrid nach Córdoba.

Der abgeriegelte AVE-Trakt des Madrider Bahnhofs ist ein Flughafen. Nicht nur, weil man in ein Verkehrsmittel steigt, das mit 300 km/h dem Luftverkehr Paroli bietet; sondern auch, weil Passagiere dort Pass, Ticket und Handgepäck vorzeigen müssen wie sonst nur am Airport.

An Bord des AVE ist es so ruhig, dass ein ICE-Reisender davon nur träumen kann – oder träumen könnte, würden ihn nicht ständig Haltestellen-Durchsagen aus dem Schlummer reißen. Oder eine Fahrkartenkontrolle (ja, trotz „Komfort-Check-in“). Oder der Hinweis, dass es heute im „Bistro“ Kaffee und Brezel zum Sonderpreis gibt. Wie so ziemlich jeden Tag.

Im AVE hingegen entfallen dank Check-in am Bahnsteig die Ticketkontrollen, ein angenehm lautloses Textlaufband informiert über die Position des Speisewagens, und es gibt keinerlei Durchsagen zu Zwischenhalten – einfach weil der Schnellzug bis Córdoba nicht zwischenhält. Zudem rast er auf einem modernen, dedizierten Gleis – das geht in einem Flächenland mit wenigen Städten und viel „fly-over country“. So muss der Zug weder wegen maroder Weichen abbremsen, noch hinter einem verspäteten Bummelzug entlangbummeln oder vor dem Zielbahnhof warten, weil „unser Bahnsteig noch vom vorherigen Zug belegt ist“, wie hierzulande Alltag beim Verspätungslieferanten Ihres Vertrauens™.

Eigentlich-aber-Passagiere

Diesen Alltag in all seinen fahrgastfeindlichen Facetten beschreibt die „Eigentlich bin ich ja Bahn-Fan, aber“-Literatur leidgeprüfter Geschäftsreisender auf Linkedin. Von stundenlangen Verspätungen ist hier die Rede, von verpassten Anschlusszügen, Flügen und Geschäftsterminen. Von Zügen, die mal im Bahnhof festsitzen, mal auf freier Strecke liegenbleiben. Meist „wegen Signalstörung“; mitunter gibt es aber auch Ausgefalleneres als ein ausgefallenes Signal, etwa „wegen eines Böschungsbrands“. Und man liest vom Pannenzug, aus dem letztlich alle aussteigen mussten – an einem Provinzbahnhof ohne Alternativanbindung oder Taxistand.

Hinzu kommen die Klassiker deutscher Bahnliteratur: die geänderte Wagenreihung (ja, auch beim ICE mit digitaler Wagennummern-Anzeige); die ausgefallene Klimaanlage; das wackelige WLAN; das Fehlen jeglicher Information, was eigentlich los ist; und das schöne deutsche Wort „Schienenersatzverkehr“. Für mich bislang das Highlight dieser blühenden Textgattung: der Speisewagen, der im mehrere Stunden verspäteten Zug schließt, weil das Personal seine Höchstarbeitszeit erreicht hat. Da reitet Kafka auf dem Amtsschimmel durchs „Bistro“.

Derlei passiert eben, wenn die Bundespolitik die Staatsbahn zur AG macht, diese auf Schienen-Biegen und -Brechen an die Börse bringen will (Grüße an Erfolgsschrankenwärter Hartmut Mehdorn von dieser Stelle!), das Projekt dann wieder aufgibt, die Bahn aber trotzdem über Jahrzehnte ausbluten lässt, weil das Bundesverkehrsministerium sich ausschließlich als Autobahn-Ausbau-Behörde versteht. Frustrierte Bahnreisende sollten also ihre Vorwürfe weniger ans Zugpersonal richten, sondern vielmehr dem Verkehrsministerium, der verlängerten Gesetzeswerkbank der Automobilindustrie, an die Lobbytür schlagen.

Meine Hypothese: Oberste Aufgabe der Deutschen Bahn ist es heute, der Bevölkerung klarzumachen, wie wichtig und schön es ist, ein eigenes Auto zu haben. Aus diesem Blickwinkel gibt vieles plötzlich Sinn – vom vergammelten Schienennetz über die chronische Unpünktlichkeit bis zum Kaffee-und-Brezel-Durchsagenterror.

Leben an der Hauptschlagader

Eigentlich – jetzt alle im Chor, bitte! – bin ich ja Bahn-Fan, aber … ich wohne und arbeite in Kinding, einem Dorf direkt an der Bahnlinie München-Nürnberg, der Hauptschlagader des bayerischen Zugverkehrs. Super, möchte man meinen: Auf dieser Schnellstrecke, so das Versprechen der Bahn, rasen Reisende mit dem Regionalexpress RE1 (wohlgemerkt nicht mit dem ICE) in 1:42 Stunden von München nach Nürnberg oder umgekehrt. Soweit der gelbe Fahrplan, also die graue Theorie.

In der noch graueren Praxis fällt auf dieser Strecke seit Monaten zirka jeder dritte Zug aus – und das gerne so kurzfristig, dass man zu Hause in der Bahn-App sieht: Ja, der Zug fährt. Eine halbe Stunde später steht man am Bahnsteig und stellt fest: War nur angetäuscht, ätschibätsch! Die Frage ist auf Bayerns Hauptstrecke längst nicht mehr: Wann komme ich am Zielbahnhof an? Sondern: Wie komme ich vom Startbahnhof weg?

Impressionen von der Hauptstrecke des bayerischen Bahnverkehrs – alle, wie man sieht, vom gleichen Tag.

Schuld an diesem Trauerspiel auf Schienen hat nur zum geringeren Teil der Investitionsrückstand für die Instandhaltung der Infrastruktur in Höhe von (laut Bahnangaben) 89 Milliarden Euro. Den Großteil des Schadens verursacht hier – ausgerechnet – eine der viel zu seltenen Investitionen.

Denn auf der Strecke München-Nürnberg schießt der RE1 nach Ingolstadt mit bis zu 190 km/h durch einen sieben Kilometer langen Tunnel hinunter ins Altmühltal. Hier kommen ihm ICEs mit bis zu 300 km/h entgegen. Die Stoßwelle einer solchen Begegnung würde einem normalen Doppeldecker die Scheiben rauspusten. Das möchte die Bahn vermeiden, denn es macht unschöne Flecken.

Deshalb nutzte die Bahn auf dieser Strecke zunächst ausrangierte, aber solide Interregio-Waggons. Doch diese waren bald alt und grau und welk an den Rändern, und so musste man neue Züge bestellen: sechs stabile Doppeldecker-Zuggarnituren à sechs Waggons plus Lok. Den Zuschlag erhielt der tschechische Hersteller Skoda. Schließlich hatten sich zuvor weder Lokalmatador Siemens noch Konkurrent Bombardier mit Ruhm bzw. Renomée bekleckert.

Die 2013 bestellten Skoda-Züge hätten 2016 ihre Fahrt aufnehmen sollen, kamen aber wegen zahlreicher Mängel mehrere Jahre lang nicht durch den TÜV. Nach Fortschritten im Tempo einer Harzwanderung ging die neue RE1-Generation 2021 in den Regelbetrieb. Doch bald nahm das Pannenchaos Zug um Zug seinen Lauf: Im Mai 2022 war keine einzige der sechs neuen Zuggarnituren einsatzbereit.

Seit Monaten fahren nur drei der sechs Züge, die anderen sind auf nicht näher genannte Zeit in Reha. Und von den drei verbliebenen pendelt einer immer nur zwischen Nürnberg und Ingolstadt (weil wegen Tunnel). Am Ingolstädter „Hauptbahnhof“ – ausgelegt auf Audi-Güterverkehr, nicht aber auf echte lebende Bahnreisende – müssen sich die Passagiere dann durchzwängen zu Anschlusszügen mit Rauspustefenstern.

Zu diesem Behelf gesellen sich all die Störungen und Verspätungen, die der Bahnbetrieb auch ohne Mithilfe eines Zugpannenlieferanten zu bieten hat. Die Folge: Beim Bahnverkehr ist das Ingenieurland Deutschland Entwicklungsland. Die Ankunft ist keine Frage des Fahrplans, sondern des Durchhaltevermögens.

Bittere Ironie: Jahrzehntelanger Investitionsstau wirft die Bahn aus der Bahn – und investiert sie doch mal in moderne Technik, dann verprellbockt sie auch das. Mit freundlicher Unterstützung von Technologielieferanten, bei denen – wie man dies von der Softwarebranche kennt – der Kunde aus Prinzip Beta-Tester ist.

Die jämmerliche Lage der Bahn ist ein Drama, wäre doch ein funktionierender Schienenverkehr immens wichtig für Deutschlands Ankämpfen gegen die Klimaüberhitzung. Doch das Autobahn-Ausbau-Ministerium ist beim Erreichen der Klimaziele eine einzige Ressort gewordene Signalstörung.

Die Aufspaltung soll’s richten

Um die Deutsche Bahn vom Abstellgleis zu rangieren, ist ihre Aufspaltung im Gespräch: Es soll eine gemeinnützige Gesellschaft für Bahninfrastruktur geben, getrennt von der gewinnorientierten Bahn AG, die rund um den Globus rund 600 Töchter wie DB Schenker hat und das Schienennetz hierzulande nur noch lustlos nebenher zu betreiben scheint.

Die Grundidee: Die Kostenlawine für den Erhalt (sprich: die Runderneuerung) der Infrastuktur landet auf den Schultern der Gemeinschaft, und darauf stellen sich dann profitorientierte Bahnbetreiber und werben um die Gunst des lawinenbegrabenen Fahrgastvolks. Diese Aufspaltung in Bahninfrastruktur und Zugbetrieb hat man in UK bereits versucht – und ist damit dermaßen krachend gescheitert, dass sogar die Deutsche Bahn im Vergleich ganz gut dasteht, solange man – psst! – den Briten die Strecke München-Nürnberg verheimlicht.

In der Schweiz hingegen, wie auch in Spanien, fahren Staatsbahnen auf Staatsschienen. Und es funktioniert. Zu fordern wäre für die Deutsche Bahn also wohl vielmehr ein integrierter gemeinnütziger Bahnbetrieb mit dem Ziel einer konsequenten landesweiten Verkehrswende. So weit wird es sicher nicht kommen, dazu ist die Entwicklung längst viel zu sehr entgleist. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen, während man eine gefühlte Harzwanderung lang auf den Zug wartet.

Dem „Eigentlich bin ich ja Bahn-Fan, aber“-Genre steht also eine blühende Zukunft bevor. Ich rechne mit Sammelwerken, Bildbänden, einem „Best of“-Almanach und dessen Verfilmung mit Kevin Spacey als Hartmut Mehdorn. Buchgeschäfte sollten derlei allerdings nicht unter „Reiseliteratur“ führen: Es passt besser in die „Horror“-Ecke. Denn die Deutsche Bahn ist nach jahrzehntelanger Odyssee längst zur Geisterbahn mutiert.

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Cartoon: (c) Wolfgang Traub