Workation: Reise zum Diktat

„Nach Diktat verreist“ war einst eine gängige Schlussformel, die besagte: Der Chef hat einen Brief diktiert und sich dann kurzerhand verabschiedet, sodass die Assistenz in Vertretung unterschreiben muss. Ganz anders heute: Die Assistenz heißt jetzt ChatGPT oder Bard und darf nichts unterschreiben – noch nicht. Auch reist man heutzutage gerne zum Diktat – genauer: zum Arbeiten an lauschiger Lokation, Workation genannt. Laut einer Cisco-Umfrage zieht es insbesondere Jüngere zur Urlaubsarbeit in den Arbeitsurlaub.

Für mich als freiberuflichen Journalisten ist Arbeit da, wo ich leichtsinnigerweise das Notebook aufklappe. Aufklappungsort Nr. 1 ist morgens der Küchentisch: Man muss schließlich das Web, E-Mails und die digitale Litfaßsäule Linkedin durchforsten, bis einen das wütende Gebrodel des Espressokännchens an die wirklich wichtigen Dinge im Leben erinnert. Also an Koffein und Zucker.

Mein Leben als Lokal-Workationist

Habe ich dem Diktat allmorgendlicher Espresso-Routine gehorcht, weitet sich mein Horizont: Frisch koffeiniert lässt sich’s fröhlich draufloswerkeln, ob im Home-Office, auf dem Freisitz (wenn das Wetter mitspielt) oder in einem nahen Café (wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt). Im Grunde bin ich permanent auf Workation, denn ich arbeite da, wo andere Urlaub machen – in der oberbayerischen Provinz, genauer: im idyllischen Altmühltal. Die steil abfallenden Jurafelsen des Tals sind ein beliebtes Instagram-Motiv, weshalb sich die Gegend „Naturpark Altmühltal“ nennen darf.

Es hat nicht nur Vorteile, dort zu arbeiten, wo andere Urlaub machen. Nachteil Nr. 1: Eben dass man dort arbeitet, wo andere Urlaub machen – und während andere Urlaub machen. Also auch beim besten Ausflugswetter mit den schönsten Ausflugszielen in unmittelbarer Nähe. Das kann Arbeitslaune und Konzentration schon mal knapp unter die 100-Prozent-Marke drücken.

Hinzu kommt, dass hiesige Gemeinden gerne mal Veranstaltungen veranstalten, um das Touristenvolk mit Dingen bei Laune zu halten, die als „typisch bayerisch“ gelten. Was dann oft erhebliche Lärmbelästigung hervorruft – Stichwort: Blasmusik, im Anglo-Sprachraum zurecht „oompa-oompa music“ genannt. Der einzige Trost ist dann zu wissen, dass man wenigstens nicht in Schottland wohnt. Denn Dudelsackgedudel ist die Rache der Schotten für Jahrhunderte britischer Vorherrschaft. Bierselige bayerische Blasmusik ist aber auch schon schlimm genug, zumal die Musikanten mit steigendem Bierkonsum weniger mit- als vielmehr gegeneinander spielen.

In Fällen von Zwangsbeschallung hilft mitunter nur noch die Flucht. Doch, das kam schon vor, und zwar anlässlich einer Festivität des örtlichen Burschenvereins. Das rettende Ufer war ein Hotel im Nachbarort Beilngries. Vor allem der Begrüßungsdialog blieb mir in Erinnerung:

Rezeptionist: „Und, hatten Sie eine gute Anreise?“
Flüchtling: „Doch, schon. Waren ja nur zehn Kilometer.“
Doppelzimmer: 105 Euro. Zwei Tassen Cappuccino: sechs Euro. Der verdutzte Blick des Rezeptionisten: unbezahlbar.

Zur sporadischen musikähnlichen Lärmkulisse gesellt sich gern das hysterisch kläffende Schoßhündchen der Nachbarin sowie, täglich frühmorgens um 5:30 Uhr, nicht minder hysterisches Kirchenglockengeläut. Derlei macht den Wunsch vieler Beschäftigter, dem Alltagstrott gelegentlich an entlegene Arbeitsorte zu entfliehen, sehr gut nachvollziehbar. Laut einer Cisco-Umfrage unter 1.050 deutschen Beschäftigten ist dieser Wunsch recht weit verbreitet, aber stark vom Alter abhängig.

Jeder Dritte unter 35 will im Urlaub arbeiten (oder umgekehrt)

Cisco verglich drei Altersgruppen: 18 bis 34 Jahre, 35 bis 44 sowie 45 aufwärts. Und siehe da: Die Jüngeren sind am reiselustigsten und Workation-freudigsten. 33 Prozent der 18- bis 34-Jährigen gaben an, sie planten, in den nächsten zwölf Monaten mal vom Ausland aus zu arbeiten. In der Altersgruppe 45 plus – von den Jüngeren „Boomer“ genannt, auf Deutsch: „Saurier“ – haben hingegen nur elf Prozent Arbeitsreiselust. Sprich: Der Saurier von Welt weiß die klare Trennung von Arbeits- und Berufsleben noch zu schätzen. Die Altersgruppe dazwischen liegt auch in puncto Workation-Affinität dazwischen, mit 21 Prozent.

Bei der Umfrage gaben zwei von fünf Jüngeren an, auf mindestens eine Workation zurückblicken zu können. Unter den 45-plus-Jährigen hat hingegen nur einer von fünf schon mal beruflich im Ausland dinosauriert.

Für Unternehmen wichtig zu wissen, gerade in Zeiten eklatanten Personalmangels: 41 Prozent der 18- bis 34-Jährigen erklärten in der Umfrage, die Möglichkeit einer Workation sei für sie ein entscheidendes (!) Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers. (Blickt auf Pressemitteilung. Blinzelt. Blickt auf Rohdaten im Excel-Sheet. Blinzelt.) Doch, da steht’s: stolze 41 Prozent. Bei den Dinos waren es hingegen nur 15 Prozent, die Mittelalten lagen mit 28 Prozent erneut in der Mitte.

Wenn diese Aussage jüngerer Befragter ernst zu nehmen ist (also nicht nur aus einer Laune heraus angekreuzt – YOLO!), halbiert das die potenzielle Arbeitgeberschar für die Reiselustigen: Laut den Interviewten ist bei knapp der Hälfte ihrer Unternehmen Workation erlaubt, bei etwas mehr als der Hälfte hingegen nicht. Was umgekehrt bedeutet: Die ortswechselfreudige Jugend geht jedem zweiten Unternehmen verloren, solange diese der Belegschaft das Weltenbummeln mit Firmen-Notebook verwehren – wofür es allerdings gewichtige Gründe geben kann, darunter rechtliche (siehe hier).

„Die Ergebnisse zeigen, was wir auch in vielen Bewerbungsgesprächen erleben: Workation ist gerade für jüngere ArbeitnehmerInnen deutlich relevanter, als manche ältere EntscheiderInnen denken“, erklärte Katrin Hartmann, Personalchefin von Cisco Deutschland, in einer Presseverlautbarung des IT-Ausrüsters.

Katrin Hartmann, Personalchefin von Cisco Deutschland. Bild: Cisco

Die Hauptgründe, die Workation-Willige für ihren Workation-Willen angaben, unterscheiden sich nicht sonderlich von jenen, die man als Anlässe stinknormaler Urlaube kennt: Sie wollen neue Kulturen und Orte kennenlernen (40 Prozent), mehr Möglichkeiten zur Erholung haben (40 Prozent) und Abstand von der eigenen Routine gewinnen (35 Prozent). Nur zwölf Prozent nannten als Vorteil die Option, weniger arbeiten zu können, ohne dass es Vorgesetzten auffällt. Von sich selbst hat man schließlich lieber das Bild eines kulturinteressierten Globetrotters als eines arbeitsscheuen Kollegenschweins. Bei den anderen beiden Altersgruppen stand übrigens „Interesse, das Konzept auszuprobieren“ auf der obersten Stufe des Motivationstreppchens. Neugierig isser halt schon, der Dino. Und der Mittelalte auch.

Workation: Modethema, aber Randthema

So viel auch über das Trendthema Workation diskutiert, schwadroniert und polemisiert wird, gerade in sommerlicher Urlaubszeit: Ein wirklich zentraler Faktor für mehr Arbeitszufriedenheit ist der Instagram- und Linkedin-taugliche Arbeitsurlaub nicht. Am besten arbeitszufriedenstellen lassen sich die Menschen laut Ciscos Umfrage über die Alterskohorten hinweg durch flexible Arbeitszeiten, ein gutes Teamklima, ein gehaltvolles Gehalt, unkompliziertes Home-Office und eine gelebte Vertrauenskultur. Die Workation-Option folgt dann erst im Schatten von hochwertigen Weiterbildungen, der Vier-Tage-Woche und modernen Büros auf Platz neun der zehn hierzu abgefragten Kriterien. Schlusslicht ist, wie zu erwarten, der stereotypische „Obstkorb im Büro“ – das Klischee-Gegenstück zum bunten Getränkchen mit Schirmchen am Pool unter Palmen.

Workations sind für Arbeitszufriedenheit kein wesentlicher Faktor. Bild: Cisco

Bei Cisco selbst – das vergisst der IT-Konzern mit Blick auf Jobsuchende nicht zu erwähnen – lassen sich Laptop, Pool und Palme kombinieren: „Man kann bei uns ohne bürokratischen Aufwand bis zu 20 Tage im Jahr aus dem Ausland arbeiten“, sagt Personalchefin Katrin Hartmann und ergänzt dies um einen wichtigen Hinweis: „Neben Möglichkeiten wie Workation achten wir als Unternehmen sehr darauf, dass unsere MitarbeiterInnen auch ihren klassischen Erholungsurlaub im Jahr nehmen, um die Akkus voll aufzuladen.“ (Die eigenen, nicht die des Notebooks.)

Das Home-Office macht es schwer genug, eine klare Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu finden. Die Workation verlängert diese bröckelnde Trennschärfe in Gegenden, die man bislang nur als Urlaubsgebiet kannte. Wer aber angesichts des Diktats des Karriere-machen-und-dabei-auch-noch-cool-aussehen-Müssens gar keine Grenze mehr zwischen Arbeit und Erholung findet, bei dem heißt es trotz all der chilligen Instagram-Bilder bald: „Beim Diktat vergreist.“

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Cartoon: (c) Wolfgang Traub