Zweischneidige Taucherbrille

Überzeugt mich vom Gegenteil: Die genialste Werbekampagne aller Zeiten stammt von VW. Nämlich jene Kampagne, mit der Volkswagen Ende der 1950er-Jahre den VW Käfer in den USA bewarb. Die wohl berühmteste Anzeige aus dieser Serie zeigt einen Käfer (in Zeiten grellbunter Zeitschriftenwerbung im preisgünstigen, aber umso auffälligeren Schwarzweiß) und darunter den schlichten Slogan: „Lemon.“ (Zitrone.)

„Lemon“ bezeichnet im US-Sprachgebrauch ein Auto, das ab Werk einen Haufen Mängel aufweist. Hierzulande würde man die Zitrone ein „Montagsauto“ schimpfen: was halt dabei rumkommt, wenn übermüdete Fließbandarbeiter mit dem Restkater vom Wochenende kämpfen.

Die selbstironische „Montagsauto“-Headline – mit dem Punkt am Ende, der das karge Wort zum unumstößlichen Urteil macht – klärt dann der Fließtext auf: Beim abgebildeten Fahrzeug handelt es sich um einen Wagen, den die peniblen deutschen Ingenieure bei der Schlusskontrolle wegen kleinerer Mängel aus dem Verkehr gezogen haben, damit die US-Käufer nur tadellose Ware erhalten, die läuft und läuft und läuft. VWs geniale Hingucker-Kampagne – für ein Auto, das vielen Amis potthässlich erschien, noch dazu eines aus dem erst kürzlich besiegten Nazi-Deutschland – trug in der Nachkriegszeit viel dazu bei, „Made in Germany“ in den USA wieder autosalonfähig zu machen.

Von der Zitrone zum Apfel

Die Zeiten, in denen VW Maßstäbe in Design und Werbung setzte, sind längst vorbei. (Sorry, kleiner Touareg, aber is’ so.) Heute hat diese Aufgabe in aufopferungsvoller Selbstlosigkeit ein anderer Konzern übernommen: Apple, der Polarstern des Gadget-Designs und Todesstern des Rechts auf Reparatur.

Das Apfel-Erfolgsrezept: 1. Man nehme ein bislang nur überschaubar erfolgreiches Produkt und verfeinere es, auf dass es einfach bedienbar, schön anzusehen und so robust gebaut sein möge, dass es läuft und läuft und läuft. 2. Man betreibe ein Marketing, das die hauseigenen Produkte zum Objekt der Begierde für die oberen oder genauer besserverdienenden Zehntausend macht. (Spätestens hier zerbröselt der Vergleich mit VW. Sorry, kleiner Phaeton, aber is’ so.) 3. Man eröffne eine Reihe von Brand Stores, damit die Fans und Faninnen wissen, wo sie sich am Vorabend einer Produktveröffentlichung in die Schlange stellen müssen, um ihr Erspartes loszuwerden.

So weit, so bekannt. Nun haben Apples Designverfeinerer erneut zugeschlagen und sich diesmal den dümpelnden Markt der AR- und VR-Brillen (Augmented Reality, Virtual Reality) vergeknöpft. Apples Neuerung heißt Vision Pro und sieht aus, wie eine Taucherbrille aussähe, würde Apple denn Taucherbrillen produzieren. (Was nicht ist, kann ja noch werden – wartet’s nur ab! Ihr habt es hier zuerst gelesen!) Vision Pro verschmilzt – ganz hohe technische Schule – AR- und VR-Brille zu einem Endgerät. Man hat also ein Holodeck auf der Nase, das eine virtuelle wie auch die tatsächliche Umgebung darstellen und Zusatzinhalte einblenden kann. Per Drehregler überblendet man echte und virtuelle Welt.

Vision Pro: Alles so schön scharf hier

Jene Auserwählten, die Apples Ins-Virtuelle-Eintaucherbrille als Erste testen durften, zeigten sich erwartungsgemäß jubilierend, insbesondere davon, wie klar, scharf und real alles erscheint. Weniger Jubel erklang beim Blick aufs Preisschild: Die Vision Pro kostet laut Preisliste knackige 3.499 Dollar. Da muss selbst manch ein überzeugter Apple-Fanboy erst mal schlucken und manch eine Apple-Oma lang für stricken. Hier herrscht nun die Hoffnung, dass Apple künftig eine abgespeckte Version ohne „Pro“-Zusatz herausbringen wird, die entsprechend billiger ist. (Ich wiederum hoffe, es ist legal, die Worte „Apple“ und „billig“ in einem Satz zu verwenden. Muss mal meinen Anwalt fragen.)

Um die Vision Pro auf die Straße oder besser: die Nase zu bringen, hat Apple neuartige High-End-Chips sowie diverse High-End-Kameras und Sensoren etc. verbaut – die genauen Specs lasse ich hier weg, dafür gibt es jene Subkultur an Apple-Blogs und -Vlogs, die sowas begeistert und ausführlichst runterbeten. Ein Detail jedoch lässt aufhorchen: Wie high-endig die verbaute Technik ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Taucherbrille laut ersten Berichten nur zwei Stunden per Akku läuft.

Zu Pandemie-Lockdown-Zeiten hatte ich mal ein MacBook online bestellt. Was bei mir ankam: Lemon. Der Akku hielt ab Werk nicht mal zwei Stunden. Ich weiß also aus Erfahrung: Das nervt gewaltig. (Sorry, kleines Vision Pro, aber is’ so.) Dass Apple sich mit so einer mickrigen Batterielaufzeit auf den Markt traut, verwundert. Aber mehr war wohl nicht drin, ohne dass das Akkugewicht den Nutzer vornüber kippen lässt.

Ich rechne deshalb mit einer – wohlgemerkt: für Apple-Verhältnisse – relativ flachen initialen Akzeptanzkurve, vor allem wegen des Preisschilds im 16:9-Format. Dennoch dürfte das Teil seinen Markt finden: Erstens ist die variable Zusammenführung von AR und VR zu einer Holodeckbrille tatsächlich eine beeindruckende Neuerung. Zweitens gibt es längst eine Apple-Kultgemeinde, die alles kauft, was einen angebissenen Apfel im Logo trägt, und dafür gerne im jährlichen Ritual das Sparschwein schlachtet. Und drittens dürften wohl viele nicht auf eine künftige Produktgeneration warten wollen, die preiswertere und länger laufende Varianten bringt (obschon nicht unbedingt beides gleichzeitig).

Unbehagliches Lagerfeuer

Trotz des Frohlockens einschlägiger Kreise à la „Apple hat es wieder einmal allen gezeigt!“ bleibt ein Unbehagen. Denn schon das iPhone – Apples VW Käfer – samt seiner Nachahmer hat dafür gesorgt, dass wir uns weniger live und in Farbe mit echten Menschen treffen, sondern einen großen Teil unserer Lebenswelt auf ein Daddelbrettchen auslagern. Ein Cartoon fasste das mal schön zusammen: Früher, in Bild 1, saßen die Menschen ums Lagerfeuer, das ihre Gesichter gemeinsam beleuchtete; heute, in Bild 2, sitzt jeder vom Lagerfeuer abgewandt für sich und starrt in sein eigenes kleines Lagerfeuerchen, das Smartphone-Display.

Proteststurm-Mitigations-Disclaimer: Natürlich kann digitale Technik helfen, Menschen zusammenzubringen, siehe Videoconferencing & Co. Zugleich aber ist das Phänomen digital bedingter Vereinzelung, mitunter sogar Vereinsamung, real. Apples AR/VR-Taucherbrille, wenn sie denn einmal Verbreitung und allerlei Imitatoren findet, dürfte beiden Tendenzen – den positiven wie auch den negativen – eine Echokammer bieten.

Vor allem aber: In Zeiten des Klimawandels müssen wir es uns als Menschheit künftig genauer überlegen, wofür wir Elektrizität und Rohstoffe einsetzen. Innovationen teilen sich da in zwei Gruppen: erstens solche, die uns helfen, mit unserem überstrapazierten Ressourcenpool besser umzugehen; zweitens alle anderen Neuerungen, egal wie schick und wie innovativ.

Apple setzt seinen Fans ein zweischneidiges Schwert auf die Nase. Sicher, Vision Pro kann mit seiner AR-Funktionalität nützlich sein, indem zum Beispiel Techniker bei Reparaturen die Arbeitsanleitung einblenden können; ebenso kann die Brille virtuelle Business-Meetings ermöglichen, für die zumindest manche Beteiligte sonst per Flugzeug herbeigejettet wären. Doch das Gros der Apple-Kultgemeinde wird die Neuerung wohl schlicht nutzen, um noch tiefer und länger in stromfressende digitale Parallelwelten abzutauchen. Das sei ihnen durchaus gegönnt. Aber trotz aller Innovationskraft, trotz aller technischen Raffinesse, trotz Early-Adopter-Lobeshymnen über das „iPhone in 3D“ und trotz all des wunderbaren Apple-Marketings, das uns nun ins Haus steht, resultiert dies aus Umweltsicht im Urteil:

PS – à propos „überzeugt mich vom Gegenteil“: Auf meinem Blog habe ich die Kommentarfunktion deaktiviert. Denn will mich dort nicht mit Kommentar-Spam herumschlagen müssen. Deshalb seid ihr alle herzlich eingeladen, die Posts auf Linkedin oder Twitter zu kommentieren. Für solche Zwecke haben die Götter der Digitalisierung das Prinzip Social Network schließlich erfunden. 😉

Lust auf mehr Artikel dieser Art? Nichts leichter als das! Einfach hier den IT Info 2 Go Newsletter abonnieren! (Achtung: Double-Opt-in wg. DSGVO! Es kommt also eine E-Mail mit Link zur Bestätigung, deshalb bitte ggf. Spam-Ordner checken!)

Cartoon: (c) Wolfgang Traub
Bildquelle: Apple