Allerorten brüsten sich Unternehmen damit, in wenigen Jahren Klimaneutralität oder „Net Zero“ erreichen zu wollen. Fachleute erachten derlei meist als Greenwashing, also Marketing-getriebene Verbrämung. Ich sprach deshalb mit Denise Lee, die Ciscos Initiativen für nachhaltige Produktentwicklung leitet, über die Aktivitäten, die hinter der Fassade tatsächlich stattfinden.
Schönfärberei war mal ein anständiges Handwerk: Im Mittelalter lieferten die Schönfärber ihrer im Wortsinn betuchten Klientel viel prunkvoller leuchtende Gewänder als die Billigkonkurrenz am Schmuddelende der Färbergasse. Heute hingegen ist Schönfärberei degeneriert zum rhetorischen Winkelzug, der Unschönes übertünchen soll.
Und übertüncht wird überall: In der Werbung, dem rhetorischen Rechtsnachfolger mittelalterlicher Schönfärberei, enthalten überteuerte Gesichtscremes natürlich kein Fett, sondern „wertvolle Lipide“; im Wirtschaftsleben gibt es keine Entlassungen aufgrund von Krisen mehr, sondern nur noch eine „Reduzierung von Redundanzen im Bereich Human Ressources“ in Zeiten von „Minuswachstum“; und im Tierreich gehört der Problembär eigentlich auf die Liste der bedrohten Tierarten, findet man doch längst keine Probleme mehr vor, sondern nur noch die invasive Spezies der „Herausforderungen“.
Alles so schön grün hier
War die Schönfärberzunft einst spezialisiert auf leuchtendes Rot, tiefes Blau oder sehr schwarzes Schwarz, so bevorzugt man heute ein sattes Grün. Denn in Zeiten der Klimaüberhitzung achten immer mehr Konsumenten, Gesetzgeber und Investoren auf die Klimabilanz eines Unternehmens – und schon füllen sich die Abwassergräben der Schönfärbergasse mit dem schleimigem Grünschleier, der beim „Greenwashing“ anfällt, beim Versuch, sich „grüner“, also umwelt- und klimafreundlicher zu geben, als man es ist. Der Begriff ist eine Variation von „Whitewashing“, dem vergleichsweise farblosen englischsprachigen Pendant zur deutschen Schönfärber-Tradition.
Greenwashing ist so verbreitet, dass die „Herausforderungen“ nur neidisch gucken können. Dies bestätigte jüngst der CCRM-Bericht (Corporate Climate Responsibility Monitor), den das NewClimate Institute dieses Jahr zum zweiten Mal veröffentlichte. Im CCRM klopft das Kölner Institut die Behauptungen weltbekannter Konzerne, beim Klimaschutz Vorreiter zu sein, auf zweierlei ab: auf Transparenz der Angaben und Integrität der Behauptungen zu Klimaneutralität und „Net Zero“.
„Klimaneutral“ bedeutet dabei, dass ein Unternehmen die Treibhausgase, die bei der Herstellung seiner Produkte oder Services anfallen, vermeidet und notfalls durch Ausgleichsmaßnahmen (Offsetting) kompensiert. „Net Zero“ beschreibt ein ähnliches Ziel: Die Treibhausgasemissionen der Aktivitäten in der Wertschöpfungskette eines Unternehmens haben unter dem Strich keine Auswirkungen auf das Klima. Idealerweise würde ein Unternehmen auch hier Treibhausgase durch grünen Strom und Rohstoffe aus Kreislaufwirtschaft minimieren und nur den verbleibenden Rest durch CO2-Absorption oder Offset-Zertifikate ausgleichen müssen.
Moderate Integrität
Die Praxis aber sieht anders aus: Auch im aktuellen CCRM erhält erneut keiner der 24 evaluierten Weltkonzerne – von Amazon und Apple bis Volkswagen und Walmart – die Einstufung „hohe Integrität“. „Angemessene“ Transparenz und Integrität bescheinigt das Institut lediglich dem Logistikkonzern Maersk für sein Versprechen, bis 2040 Net Zero zu erreichen. Denn der Logisitker berichte transparent über Emissionen und verfolge umfassende Pläne, von fossilen Treibstoffen auf CO2-arme oder gar -neutrale umzusteigen. Hingegen erhalten in der IT-Branche – wo man in typischer Silicon-Valley-Manier gern den Weltenretter gibt – selbst Apple, Google und Microsoft nur das Label „moderate Integrität“. Bei Amazon und Foxconn sieht das NewClimate Institute „niedrige“ Integrität der Klimaziele, Samsung zählt mit „sehr niedrig“ zu den vier Schlusslichtern.
Zur Schönfärberei kommt Verdunkelungsgefahr: Der Zertifikathandel der Carbon-Offset-Branche steht im Ruf eines modernen Ablasshandels. Erstens gibt es gar nicht so viel Waldfläche, um die CO2-Emissionen der Weltwirtschaft – laut Forschern 40,6 Milliarden Tonnen – durch Wiederaufforstung (die beliebteste Offset-Maßnahme) zu kompensieren. Zweitens sind viele Offset-Projekte lange nicht so wirksam wie behauptet. Waldbrände an der US-Westküste zum Beispiel haben schon so manches Offset-Zertifikat in dunklem Rauch aufgehen lassen.
Grüner entwickeln
Natürlich wollen Unternehmen heute als klimafreundlich dastehen und schicken ihre Marketiers mit dem grünen Farbeimer los. Doch nicht alles ist Grüntüncherei: Hinter den Hochglanzkulissen arbeiten in vielen Unternehmen engagierte Beschäftigte an echten Nachhaltigkeitsfortschritten.
Ein Beispiel liefert Cisco: Im Herbst 2021 verkündete der IT-Konzern mit breiter Brust, man wolle bis 2040 in der gesamten Wertschöpfungskette Net Zero erreichen, und zwar durch 90-prozentige Emissionsreduktion in allen Bereichen, vom eigenen Betrieb und Energiebezug (Scope 1 und 2) bis zur Lieferkette und Produktnutzung beim Anwenderunternehmen (Scope 3). Der IT-Riese hat sich also viel vorgenommen.
„Mein Team ist sehr klein, aber es arbeitet im Moment in allen Bereichen der technischen Entwicklung. Es ist dafür verantwortlich, Nachhaltigkeit in unsere Produkte und Lösungen zu integrieren“, so Denise Lee, Vice President Engineering Sustainability Office bei Cisco (im Bild oben).
Ciscos Hauptproblem – sorry, „Hauptherausforderung“ – liegt hier: „99 Prozent der Emissionen von Cisco stammen aus Scope 3, und 72 bis 73 Prozent davon aus der Produktnutzung“, sagt Lee. „Wir können das nur durch die technische Entwicklung unserer Produkte verringern.“ Dabei arbeite sie eng mit Mary de Wysocki, Ciscos Chief Sustainability Officer, zusammen – aber längst nicht nur mit ihr: „Es gibt viele Teams im gesamten Unternehmen, ich nenne sie ‚Green Hearts‘, die versuchen, in ihrem Teil des Portfolios das Richtige zu tun“, so Lee. „Wir bringen diese Leute zusammen und sorgen für Konsistenz in unserem gesamten Portfolio, um unser Ziel der Kreislaufwirtschaft zu erreichen.“
Nachhaltige Rechenzentren
In puncto Energieersparnis kann Cisco auf seine „Silicon One“-Chiptechnik verweisen. Ein 25,6-Tbit/s-Switch mit G100-Prozessor spart laut Cisco-Angaben bis zu 77 Prozent Strom gegenüber herkömmlichen Systemen – vor allem durch höher aggregierte Switching-Leistung. Die hochskalierenden modularen Switches der Serie Nexus 9800 wiederum optimieren laut Hersteller die Energieeffizienz, indem eine einzige Stromschiene den Strom an alle Karten und Module des Systems verteilt. Diese Switch-Serie kann laut Denise Lee „die Grundlage für nachhaltige Rechenzentren bilden“.
Natürlich seien mehr Innovationen gefragt: „Wenn wir an die steigenden Bandbreiten und die Anforderungen der IT-Branche denken, müssen wir uns unbedingt weiter neu erfinden und nach vorne schauen auf das, was noch möglich ist“, sagt Lee. Großes Potenzial sieht sie im Routed Optical Networking, das Netzbetreibern laut Ciscos Kalkulation 45 Prozent Energieeinsparung bringen soll.
„Wir haben hier den Vorteil der Skalierung – und ich würde sagen: der Geschwindigkeit und der Skalierung. Denn es gibt nur ein paar Dutzend Service-Provider auf der Welt, die den Großteil des weltweiten Internets bereitstellen“, erklärt Denise Lee und führt aus: „Wir müssen die gesamte Wertschöpfungskette an jeder Stelle des Netzwerks betrachten, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Denn es hilft nicht, das Problem auf einen Cloud-Anbieter oder jemand anderen abzuwälzen.“
Für die Cisco-Managerin, die zuvor Vice President Product Marketing war, ist ein wichtiges Stichwort „Einfachheit“: „Ich versuche zu vereinfachen, um sicherzustellen, dass die nachhaltigen Lösungen, auf die sich Cisco konzentriert, konsistent bleiben. Denn es wird Zeit brauchen, bis der Markt und die Kunden sie annehmen.“ Es müsse sozusagen einen „Easy- oder Easier-Button“ für die Techniknutzung geben: „Wir hoffen, dass wir dies durch die Vereinfachung und Standardisierung der Energiemessung, also durch die Transparenz des Energieverbrauchs, erreichen können“, sagt Lee, „während wir gleichzeitig an der eigentlichen Hardware arbeiten, an den Technologieebenen vom Chipdesign über die optische Technik bis hin zur Hardware und den Gehäusen selbst.“ Zudem werde Cisco seine umfangreiche technische Entwicklung nutzen, um Standardisierung, Regulierung und Politik in diese Richtung zu beeinflussen.
Lieferkette und Kreislaufwirtschaft
„Einer unserer wesentlichen Vorteile liegt in der Zuverlässigkeit unserer Lieferkette“, betont Lee. „Unsere Supply Chain wurde von Gartner drei Jahre in Folge als Nummer 1 bewertet. Seit Jahren arbeiten wir an engagierten, spezifischen Beziehungen mit einer kleineren Anzahl von Lieferanten bis hin zu jeder einzelnen Komponente.“
Die Corona-Zeit habe sich dabei sogar als nützlich erwiesen: „Die Pandemie, so schwierig sie auch war, hat es uns ermöglicht, eine globale Lieferkettenstrategie zu entwickeln, um in Zukunft widerstandsfähiger, agiler und flexibler gegenüber Veränderungen zu sein“, sagt Lee. „Wir haben in die Scorecards für unsere Zulieferer eine Reihe von Kennzahlen zur ökologischen Nachhaltigkeit aufgenommen.“
Dies ermögliche es Cisco, „in unseren Fabriken, sogar in China, eine Netto-Null-Abfallmenge zu erreichen.“ Als Beispiele für erste Erfolge nennt sie das No-Paint-Projekt (Verzicht auf ölbasierte Farben bei bestimmten Catalyst-Switches) und die Verringerung des Verpackungsmaterials.
Ziel ist eine Kreislaufwirtschaft: „Wir bemühen uns sehr darum, die Kreislaufwirtschaft in jeder Phase zu integrieren, vom Produktdesign bis zur Demontage und Reparatur oder Wiederverwendung“, sagt Lee. „Wir integrieren die Kreislaufwirtschaft in unsere Produkte, um sie so gut wie möglich zu standardisieren und zu modularisieren. Wir sind stolz darauf, dass 99,98 der Produkte, die wir zurücknehmen, verantwortungsvoll recycelt oder wiederverwendet werden können.“ Auf der Cisco Live in Amsterdam habe Cisco sogar live ein Gerät zerlegt und gezeigt, wie dieser Prozess aussieht und wie man Edelmetalle einsparen kann.
Für Fortschritte bei Scope 3 muss Cisco Kunden und Partner mit an Bord holen. So bietet der Konzern zum Beispiel Takeback- und Reuse-Programme sowie eine Green-Pay-Initiative mit einem zusätzlichen Rabatt von fünf Prozent im Voraus für Kunden, die Produkte zum Recycling oder zur Wiederverwendung zurückbringen. „Wir regen unsere Partner jetzt dazu an, noch mehr über Dienstleistungen nachzudenken, die sie anbieten können“, sagt Lee, „ob es sich nun um Professional Services rund um Nachhaltigkeit und Scope Accounting oder um Energie-Management handelt.“
Partnerunternehmen können eine Zertifizierung für das „Partner Environmental Sustainability Specialization Program“ erlangen. „Mehr als 300 Partner sind bereits zertifiziert“ berichtet Lee, „und wir arbeiten weiter an der Ausbildung und Entwicklung, um sie auf diesem Weg zu begleiten, aber auch, um ihnen zu helfen, die richtigen Dienstleistungen aufzubauen.“
Fast Fashion und Smart Buildings
Trotz aller Fortschritte der IT-Hersteller: Die Klimabilanz hängt letztlich am IT-Einsatz beim Anwenderunternehmen. Nutzt zum Beispiel ein Fast-Fashion-Hersteller all die schönen IT-Neuerungen, um noch schneller noch mehr Wegwerfmode zu produzieren, dann endet grüne IT schnell in einem bunten Müllberg. Dennoch besteht der größte Hebel der IT-Branche heute darin, die Klimafreundlichkeit in anderen Branchen und im Konsumentenalltag zu verbessern.
Großes Potenzial sieht Denise Lee beispielsweise bei „Smart Buildings“: „In einem Gebäude (gemeint ist: kommerziellen Gebäude, d.Red.) gibt es heute in der Regel über 30 verschiedene Management-Systeme“, sagt sie. Dies müsse man vereinheitlichen und vereinfachen. „Cisco versteht den Wert der Vernetzung sehr gut. Nun stellen Sie sich das Konzept der Vernetzung von Energie vor. Das ist genau das, was wir innerhalb von Gebäuden tun. Mittels Power over Ethernet mit bis zu 90 Watt können wir diese Energie für alle Access Points, Heizungs-, Lüftungs- und Kühlsysteme, Überwachungskameras und Sicherheitssysteme vernetzen.“
Damit könne ein Unternehmen zum Beispiel alle Geräte auf dem Schreibtisch und alle APs in den Ruhezustand versetzen, wenn sie nicht in Gebrauch sind: „Die Einsparungen, wenn man das über ein ganzes Gebäude und alle Schreibtische im Gebäude multipliziert, summieren sich ganz erheblich“, betont Lee und verweist auf entsprechende Pilotprojekte in New York und London.
Sie freut sich über neuartige Anknüpfungspunkte im Partnerumfeld, die sich aus solchen Projekten ergeben: „Das Faszinierende ist, dass wir allmählich einige neue Partner sehen, etwa für Beleuchtungsdesign, Möbeldesign, Heiz- und Kühleinheiten, alle möglichen anderen Partner, die in diese Programme einsteigen und sich an der breiteren Entwicklung von integrierten Lösungen beteiligen wollen.“
Denkbar wäre hier beispielsweise, um Lees Vernetzungsfaden weiterzuspinnen, eine intelligente, sensor- und IT-gesteuerte Bewässerung der Fassaden- und Dachbepflanzung von Bürogebäuden. Dies wäre in mehrfacher Hinsicht umwelt- und klimagerecht – und es entstünde statt Greenwashing eine grüne Fassade im eigentlichen, positiven Sinne.
In wenigen Jahren wird sich zeigen, inwieweit Cisco seine hoch gesteckten Klimaschutzziele aus eigener Kraft erreichen kann – und in welchem Maß der Konzern doch noch auf den mehr oder minder seriösen Zertifikathandel zurückgreifen muss. Doch durch offene Kommunikation schafft der IT-Ausrüster zumindest schon einmal eine solide Basis, um Fortschritte nachzuvollziehen, im eigenen Haus wie auch in der Lieferkette und in Kundenprojekten.
Das Potenzial für Innovationen ist jedenfalls enorm, man muss es nur nutzen – möglichst zügig und nicht nur auf dem Papier. Da ist es gut zu wissen, dass es in Unternehmen – nicht nur bei Cisco und nicht nur in der IT-Branche – Menschen gibt, die solche Projekte jenseits der verbreiteten Schönfärberei mit echtem rotem Herzblut angehen.
(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 05/2023.)
Lust auf mehr Artikel dieser Art? Nichts leichter als das! Einfach hier den IT Info 2 Go Newsletter abonnieren! (Achtung: Double-Opt-in wg. DSGVO! Es kommt also eine E-Mail mit Link zur Bestätigung, deshalb bitte ggf. Spam-Ordner checken!)
Bild: Cisco