Kleines Karo, weite Welt

„Wissensarbeiter“ – Leute, die ihren Job am Computer erledigen – konnten in Pandemiezeiten nach kurzer Umstellungsphase einfach von zu Hause aus weiterarbeiten – anders als beispielsweise Beschäftigte im Handel, in Arztpraxen, Kliniken, bei kommunalen Dienstleistern etc. Remote Work, früher Telearbeit genannt und als Exot betrachtet, hat sich so gut bewährt, dass viele bereits vom „neuen Normalzustand“ sprachen. Doch nun – die Pandemie scheint überwunden – diskutiert man vom schwäbischen Mittelständler bis zum US-Konzern über die Pflicht zur Rückkehr ins Büro. Diese Debatte ist vor allem eines: unglaublich kleinkariert – und deshalb schädlich für Unternehmenskultur und Unternehmenserfolg.

Der Autor dieser Zeilen kann sich angesichts der aktuellen Home-Office-Debatte ausnahmsweise mal als Vorreiter fühlen – ein Hipster der Arbeitswelt, der schon remote arbeitete, bevor es cool war. Denn der freiberufliche Journalist arbeitet prinzipbedingt dort, wo er leichtsinnigerweise das Notebook aufklappt, bevorzugt im Home-Office, zudem zeitlich flexibel, immer online, gerne mal unterstützt von Cloud-Services – und bei sommerlichen Temperaturen auf dem Home-Office-Freisitz mit Blick über eine Gegend, in der andere (derzeit viel zu viele andere) Urlaub machen.

Doch längst nicht alle Unternehmen tun sich mit dem flexiblen Arbeiten so leicht wie der journalistische Ein-Mann-Betrieb: Zu komplex sind die Vorgaben der Arbeitgeber, zu heterogen die Wünsche der Belegschaft, zu eingefahren die über Jahrzehnte etablierten, auf Präsenz getrimmten Arbeitsabläufe. Und so lockt vielerorts das gute alte Büro mit der Aussicht auf eine Rückkehr in die gute alte Zeit – mal vom Chef vorgegeben, mal von zumindest einem Teil der Belegschaft herbeigesehnt. Doch mit dieser Rückkehr könnten sich die Unternehmen laut Ansicht einiger „Future of Work“-Vordenker den Weg zum dringend nötigen Wandel verbauen.

„Nach der Pandemie haben wir eine großartige Chance. Wir können uns dafür entscheiden, die Normen rund um ‚nine to five‘ und Montag bis Freitag, um synchrone Arbeit, um das Büro, um unseren Fetisch für seltsame Maßstäbe wie Produktivität und um die Rolle der Arbeit als Teil des Lebens zu hinterfragen“, schrieb zum Beispiel Dominic Price, Work Futurist bei Atlassian, Ende letzten Jahres auf seinem Blog. Seine Folgerung: „Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um die Kulturen (ja, es gibt mehrere) zu gestalten, die Sie in Ihrem Unternehmen haben wollen, und zwar vorsätzlich und nicht zufällig. Es ist eine Chance, die besten Mitarbeiter in Bezug auf Werte, Kompetenzen und Wirkung anzuziehen und zu halten.“

So weit die Theorie. Die Praxis sieht oft anders aus. In den USA zum Beispiel forderte Tesla-Chef Elon Musk, der vielen als Vordenker gilt, in unmissverständlichen, man möchte fast sagen herrischen Worten: „Jeder, der remote arbeiten möchte, muss mindestens (und ich meine mindestens) 40 Stunden pro Woche im Büro sein oder Tesla verlassen.“

Bei Apple wiederum lautete die Post-Covid-Parole zunächst: mindestens drei Tage pro Woche im Büro, sonst drohe die Unternehmenskultur zu bröckeln. Kürzlich machte der Konzern dann aber angesichts steigender Covid-Fallzahlen doch einen Rückzieher – im kurz vor der Pandemie eröffneten neuen Headquarter in Cupertino gähnt weiterhin die Leere.

Hierzulande ist laut einer aktuellen OnePoll-Umfrage im Auftrag von Citrix gut ein Drittel (34 Prozent) der Büroangestellten in Vollzeit ins Büro zurückgekehrt, 20 Prozent verbringen nun drei bis vier Wochentage im Büro, 17 Prozent ein bis zwei Tage. Nur eine kleine Minderheit von sieben Prozent arbeitet weiterhin komplett remote. (22 Prozent gaben bei der Umfrage an, dass ihr Büro während der Pandemie nicht geschlossen war.)

Zurück in die Zukunft?

Die Frage, ob Angestellte zurück ins Büro müssen (unabhängig davon, ob sie zurück ins Büro wollen), wirkt aus der Zeit gefallen. Denn zahlreiche Umfragen und Erhebungen haben inzwischen belegt, dass die Produktivität von Beschäftigten nicht von ihrer Präsenz im Büro abhängt – sondern eher von Fragen der Mitarbeiterführung, Motivation, Unternehmenskultur und der Förderung des individuellen Engagements.

Ein Beispiel: In einer Umfrage unter 800.000 Beschäftigten von Fortune-500-Unternehmen, durchgeführt Anfang 2021 vom Great Place to Work Institute in den USA, berichteten die meisten Beschäftigten von stabiler oder gar gestiegener Produktivität durch das Arbeiten von zu Hause aus. Laut Citrix-Umfrage fühlen sich 69 Prozent der hybrid Arbeitenden produktiv – rein im Home-Office sind es nur 56, bei der Bürobelegschaft sogar nur 51 Prozent.

Das Problem: Die Einschätzung der Produktivität, nach der in solchen Untersuchungen gefragt wird, ist stets subjektiv – und vielen Vorgesetzten fehlen die Werkzeuge, um Quantität und Qualität der Arbeit ihrer Remote-Belegschaft hieb- und stichfest zu beurteilen. Und so greifen viele Arbeitgeber eben auf jenen vertrauten Maßstab aus den Anfangszeiten der Industrialisierung zurück, als man Output schlicht nach Stückzahlen pro Arbeitszeit bemaß. Vieles, was insbesondere höher qualifizierte Beschäftigte heute im Büro – oder eben im Home-Office – leisten, entzieht sich jedoch solch einfacher Bewertung. Entsprechend schwierig ist es, die Frage nach der Produktivität belastbar zu beantworten: Hier wären erst einmal ergebnisorientierte Parameter zu definieren.

In Bezug auf die empfundene Produktivität jedenfalls zeigte eine Online-Befragung des Fraunhofer IAO, vorgestellt im März dieses Jahres, zwei Tendenzen, die der oben genannten Citrix-Umfrage widersprechen: „Wir erkennen hier mittlerweile zwei Lager, in denen sich Beschäftige entweder im Home-Office oder im Büro produktiver fühlen“, so Studienautorin Milena Bockstahler vom Fraunhofer IAO.

Auch die Work-Life-Balance lässt sich laut den Befragten mal im Home-Office, mal im Büro besser herstellen. Und so will rund die Hälfte der Befragten ihrer Arbeitszeit in Zukunft (wieder) im Büro verbringen. Insbesondere die Möglichkeiten für Zusammenarbeit und informellen Austausch innerhalb der Belegschaft spielen dabei eine große Rolle: „Wir ziehen uns sozusagen gegenseitig wieder ins Büro“, so Bockstahler. 

Laut der Fraunhofer-Umfrage spielt die Qualität der technischen und ergonomischen Ausstattung des Heimarbeitsplatzes einen entscheidenden Faktor bei der Wahl des Arbeitsorts: Befragte, die zu Hause eher unzufrieden mit ihrem Setup waren, bevorzugten – wenig überraschend – die Arbeit im Büro. „Wir haben auch festgestellt, dass eine gute Anbindung an das Unternehmen und eine gute Verpflegung für viele zu den größten Anreizen für die Rückkehr ins Büro gehören“, so Bockstahler. 

Die Folgerung der Fraunhofer-Forschenden: „Angesichts der zeitlichen Ressourcen, die das Pendeln zum Büro in Anspruch nimmt, werden sich Unternehmen in Zukunft noch mehr mit der Thematik innovativer Bürokonzepte sowie erlebnis- und lernorientierter Büroformen auseinandersetzten müssen, um die Rückkehr ins Büro attraktiver zu gestalten.“ Besonders wichtig seien Rückzugsorte für produktives und fokussiertes Arbeiten.

Um den informellen sozialen Austausch zu fördern, empfiehlt Fraunhofer IAO „Lounge-ähnliche offene Begegnungsorte und Erlebnisangebote“. Das Büro der Zukunft könne man als wichtigen Treffpunkt für soziale Zusammenarbeit und kreativen Motor in der Ideenfindung verstehen.

Dass die Unternehmenskultur – bei Apple als wesentliches Argument für Präsenz im Büro genannt – nicht unter verteiltem Arbeiten leiden muss, bestätigte jüngst eine Umfrage des MIT Sloan Management Review im Auftrag von Cisco unter 1.561 Beschäftigten aus Unternehmen mit über 5.000 Beschäftigten in 56 Ländern: 90 Prozent der Befragten erklärten hier, Remote Work wirke sich positiv auf die Unternehmenskultur aus.

Fast die Hälfte (47 Prozent) gab an, die Übereinstimmung der Unternehmensprozesse mit den Unternehmenswerten habe sich dadurch verbessert – oder zumindest nicht verändert (41 Prozent). Inwieweit eine Aussagen quer durch die Belegschaften multinationaler Konzerne auf deutsche Mittelständler übertragbar sind, sei einmal dahingestellt.

„Die Vorbehalte gegenüber Home-Office und Hybrid Work sind in der Praxis unbegründet“, meint jedenfalls Detlev Kühne, Direktor Mittelstandskunden und verantwortlich für die strategische Entwicklung der Hybrid-Work-Aktivitäten bei Cisco Deutschland. „Hybrid Work verbessert die Unternehmenskultur. Für die Schaffung eines Zugehörigkeitsgefühls sind Führungsqualität und Kultur viel wichtiger als der Arbeitsort.“

Bei dieser Umfrage erklärten 68 Prozent der Befragten, die freie Wahl des Arbeitsortes sei ein wichtiger Faktor für ihr Engagement und Wohlbefinden. IT-Anbieter wie eben auch Umfragesponsor Cisco erwähnen an dieser Stelle gerne, dass die technischen Möglichkeiten für die ortsungebundene (Zusammen-)Arbeit längst gegeben sind: Sie reichen von digitalen Workspaces über Online-Videokonferenz- und Collaboration-Tools bis hin zu SaaS-Angeboten, die ganze Prozesse in die Cloud verlagern und somit ortsunabhängig machen.

Zur Hochsaison geschlossen

Unweit vom besagten Journalisten-Home-Office dort, wo andere Urlaub machen, musste jüngst ein Hotel vorübergehend schließen – und das mitten in den deutschen Sommerferien. Der Grund: Das Hotelpersonal stammt überwiegend aus der Türkei, und diese Beschäftigten fahren in den Sommerferien zurück in die „Heimat“ – komme da, was wolle. Ersatz ist im leergefegten Personalmarkt des Hotel- und Gastronomiegewerbes nicht zu finden, also bleibt nur das Schild: „Vorübergehend geschlossen!“

Dieses Hotel könnte sich bald als der Hipster des deutschen Arbeitsalltags erweisen: Laut dem Statistischen Bundesamt werden in den kommenden 15 Jahren rund 12,9 Millionen Erwerbstätige das Renteneintrittsalter erreicht haben – also rund 30 Prozent der im Jahr 2021 Berufstätigen. Dadurch dürfte sich die Lage am eh schon angespannten Arbeitsmarkt quer durch die Branchen nochmals erheblich verschärfen.

Die Frage ist dann nicht mehr, an wie vielen Tagen pro Woche der Arbeitgeber seine Angestellten um sich geschart sehen möchte. Vielmehr lautet die Kernfrage spätestens dann: Was kann ein Arbeitgeber tun, um die Beschäftigten in ihrer Produktivität, ihrem Engagement und ihrer Bindung an das Unternehmen zu fördern und unterstützen, wann und wo auch immer sie arbeiten möchten? Der Titel der MIT-Umfrage bringt es auf den Punkt: „Die neue Arbeitswelt transformiert die alten sozialen Verträge“.

Hier kann es hilfreich sein, den Blick vom kleinen Karo abzuwenden und auf die große weite Welt zu richten: Remote Work bedeutet, wie „Future of Work“-Fachleute gerne betonen, dass Unternehmen im Prinzip geeignete Beschäftigte überall auf der Welt finden können – die geeigneten IT-Hilfsmittel, Prozesse, Sprachkenntnisse, Security-Mechanismen und Offenheit für Neues vorausgesetzt. Denn vielleicht will der indische, tschechische oder (hier Land der Wahl einfügen) Programmierer ja gar nicht in die USA oder nach Deutschland auswandern und seine Familie zurücklassen, wenn er seine Arbeit ebenso gut remote von seiner Heimat aus erledigen kann.

Die nach zwei Jahren Pandemie verständliche Sehnsucht nach dem guten alten Vor-Corona-Büro droht mitunter, den Blick auf das Potenzial digital gestützter Arbeit zu vernebeln. Ob per GPS gesteuerte autonome Mähdrescher oder eine Kundenberatung im Baumarkt per Video-Chat und Smartphone-App, die den Weg zum Produkt weist: Die Futuristen der Arbeit nennen zahlreiche digitale Möglichkeiten, Arbeit und Zusammenarbeit vom Arbeitsort und überkommenen Produktionsweisen zu entkoppeln. Dank der fortschreitenden Digitalisierung werden es täglich mehr – auch wenn es an vielen Stellen noch hapert, während an anderen der Marketing-Hype wuchert, Stichwort: Metaverse.

Jetzt müsste die IT-Branche bloß noch einen Weg finden, wie das Hotelpersonal remote von der Türkei aus die Betten machen kann. Dann steht einer glorreichen Zukunft der Arbeit nichts mehr im Weg.

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(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 09/2022.)

Bild: (c) Wolfgang Traub