Remote Work: Zurück in die Zukunft

In der IT-Branche versteht man die aktuelle Corona-Pandemie bevorzugt nicht bloß als Krise, sondern zugleich als Sprung in Richtung „Future of Work“. Schließlich waren es allerorten IT-Geräte, Netzwerke und Web- oder Cloud-Services, mit denen Unternehmen von Home-Offices aus den Betrieb am Laufen hielten. Allein: Hatten wir uns die Zukunft der Arbeit nicht irgendwie anders vorgestellt, als dauerhaft zu Hause festzusitzen wie einst unsere Altvorderen bei Eis und Sturm?

„Arbeit ist heute schon mobil und multilokal, morgen ist sie virtuell und findet im Metaversum (dem kollektiven virtuellen Raum) statt“, postulierte die Bertelsmann Stiftung 2016 in ihrem Report „2050: Die Zukunft der Arbeit“. Geradezu prophetisch heißt es dort: „Wahrscheinlich beschleunigt sich das Tempo der Veränderung weiter“ – doch dass ausgerechnet aufgrund einer Pandemie ein Ruck durch Deutschland gehen würde, damit hatten die Bertelsmänner anno 4 v. Cor. (vor Corona) wohl nicht gerechnet.

Als „Zeitmaschine“ bezeichnete Anne-Marie Slaughter, Chefin des US-Thinktanks New America Foundation, die Coronakrise in der New York Times und brachte damit die Einstellung vieler aus der IT-Branche gegenüber Covid-19 auf den Punkt: „Veränderungen, von denen viele von uns vorhergesagt haben, dass sie über Jahrzehnte stattfinden würden, vollziehen sich stattdessen innerhalb von Wochen.“

Sind wir somit allesamt, wie einst Marty McFly in der Science-Fiction-Komödie „Back to the Future“, in ein magisches DeLorean-Coupé gestiegen, um uns in eine ferne „Future of Work“ katapultieren zu lassen? Wohl kaum – oder höchstens in dem Sinne, wie auch der Hollywood-Protagonist seine Zeitmaschine nutzte: Der nämlich reist im Film erst mal in die Vergangenheit, in die Ära seiner Eltern. Von heute aus gesehen wären das die 1990er-Jahre, also jene Dekade, in der man darüber diskutierte, ob man denn Mitarbeiter mit diesen neumodischen „Klapprechnern“ von zu Hause aus arbeiten lassen sollte, und ob sich dieses „Internet“ wohl durchsetzen wird. Die Älteren erinnern sich: „Zukunftsforscher“ Matthias Horx prognostizierte noch 2001, das Internet werde sich auf absehbare Zeit nicht als Massenmedium etablieren.

Heute hingegen nehmen Jugendliche ungläubig kopfschüttelnd zur Kenntnis, dass es angeblich mal eine graue Vorzeit ohne Internet, Instagram und Netflix gegeben habe – und allüberall in deutschen Landen sprießen Home-Offices, obschon eben erst angesichts drohender Virenverseuchung. Bei einer Umfrage im Auftrag von Citrix unter 3.770 IT-Verantwortlichen, darunter 500 aus Deutschland, gaben international zwei Drittel der Teilnehmer (69 Prozent) an, der Wechsel ins Home-Office sei für die Mehrheit ihrer Mitarbeiter einfach gewesen. Hierzulande hingegen liegt dieser Wert mit 59 Prozent ein gutes Stück niedriger – man darf vermuten, dass sich da deutscher Bürokratismus, oft zögerliche Cloud-Akzeptanz und regional lieblose Breitbandversorgung bemerkbar machen.

Denn laut OECD-Zahlen sind wir im internationalen Vergleich in puncto Glasfaserabdeckung äußerst träge unterwegs: In Südkorea sind 81,7 Prozent der Haushalte mit Glasfaser versorgt, in Schweden 68,9 Prozent, hier müde 3,6 Prozent. Die Telekom setzt weiter darauf, ihre Kupferkabel bis zum Letzten auszureizen. Immerhin gaben bei der Citrix-Umfrage 61 Prozent der deutschen Teilnehmer an, die eingesetzte Technik habe die Zusammenarbeit ebenso effektiv ermöglicht wie zuvor. Siehste mal, was mit Cloud-Services alles geht – und mit anständigem deutschem DSL-Vectoring, Vorsprung durch Technik eben.

Die gute Nachricht: Tatsächlich scheint die Pandemie als Weckruf zu wirken. Erlaubten laut Bitkom Anfang 2019 nur 39 Prozent der deutschen Unternehmen Home-Office-Arbeit, wollen nun 63 Prozent der deutschen IT-Verantwortlichen laut der Citrix-Umfrage ihre Bestrebungen intensivieren, Remote Work – flexibles Arbeiten abseits des klassischen Büros – langfristig zu ermöglichen. 65 Prozent der Befragten gaben an, manche Mitarbeiter würden gar nicht mehr dauerhaft ins Büro zurückkehren, und 61 Prozent wollen den Umzug ihrer IT in die Cloud vorantreiben. Remote Work findet somit „virale Verbreitung“, wie es Social-Media-Marketiers v. Cor. zu formulieren pflegten.

Der vielbeschworenen „Zukunft der Arbeit“ nähern wir uns also über den Umweg von Ausgangsbeschränkungen – einen echten „Lockdown“ konnte Deutschland ja bislang vermeiden – und via Home-Office als Notlösung für die BusinessContinuity. Das von „Future of Work“-Auguren avisierte Zukunftsszenario – flexibles, an den Bedürfnissen der Mitarbeiter ausgerichtetes Arbeiten an beliebigen Orten, jederzeit und per Vernetzung von allem mit allem – musste allerdings gegenüber den Zwängen der Pandemiebekämpfung vorerst zurückstecken.

Eine neue Normalität zum Mitnehmen, bitte!

„Infolge der COVID-19-Pandemie sind schätzungsweise 2,7 Milliarden Menschen, also mehr als vier von fünf Beschäftigten der globalen Arbeitnehmerschaft, von Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen betroffen gewesen“, schätzt Deloitte in seinem aktuellen Report „Workforce Strategies for Post-COVID Recovery“. Wie aber findet man nun aus dieser Lage wieder heraus – und das möglichst auf einem Pfad, der tatsächlich in Richtung „Future of Work“ führt?

Deloittes Wirtschaftsberater unterteilen den Weg resilienter Unternehmen aus der Covid-19-Krise in drei Phasen: In der Respond-, also Antwortphase reagiert das Unternehmen auf die aktuelle Krise mittels Continuity-Management-Maßnahmen; in der Recover- oder Erholungsphase lernt es dazu und erstarkt dadurch; in der Thrive- oder Gedeihphase schließlich richtet es sich ganz am „New Normal“, der neuen Normalität, aus.

Das Beratungshaus warnt davor, leichtfertig anzunehmen, die Erholung werde zu einem bestimmten Zeitpunkt – etwa mit der Entdeckung eines Heilmittels oder Impfstoffs – erfolgen. Ein Unternehmen müsse sich vielmehr auf verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Zeithorizonten einstellen. Der „Erholungsprozess“ einer Organisation werde „als Brücke dienen zwischen der Reaktion – wie sie mit den unmittelbaren Anforderungen der Krise umgegangen ist – und wie ihre Zukunft aussehen wird – der neuen Normalität.“

In dieser neuen Normalität, da sind sich die Marktkenner einig, wird Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen. „In der Anfangsphase der Krisenreaktion begannen einige Organisationen zu prüfen, wo digitale Technologien, Automatisierung und KI die Arbeit sicherer, schneller, besser und innovativer machen könnten“, schreibt Deloitte. „Dies wird man wohl fortsetzen müssen, wenn Organisationen ihre Arbeit, ihre Belegschaft und ihre Arbeitsplatzprioritäten und -chancen neu gestalten und überdenken.“

Es gelte, vieles neu zu evaluieren: von den physischen Arbeitsumgebungen über die Zusammensetzung der Belegschaft, die erforderlichen Skills, neue Kompensationmodelle, die Frage des Vertrauens in einer hybriden Onsite/Online-Arbeitswelt bis hin zum Einsatz digitaler Technik wie etwa KI und inklusive der lästigen Frage, wie man das alles ordentlich abgesichert bekommt. (Zwischenruf genervter Eltern: „Und wenn man dann bitte das mit der Kinderbetreuung noch regeln könnte!“)

Vom Home-Office zum flexiblen Arbeiten

Wie man vom trauten Heimbüro zurück in die Zukunft gelangt, diskutiert die IT-Branche lebhaft. „Home-Office während Corona ist nicht gleichzusetzen mit Home-Office in normalen Zeiten“, sagt Cortado-Holding-Vorstand Carsten Mickeleit, „einfach deshalb, weil jetzt alle gleichzeitig im Home-Office sind.“ Das Heimbüro habe zwar viele Vorteile, eigne sich aber nicht als Dauerzustand, ergänzt er und erinnert an die Beliebtheit von Coworking Spaces vor der Krise.

Seine Forderung: „Fluent Work“, bei der die Grenzen zwischen Home-Office und Office verschwinden. „Für echte ,New Work’ muss man die bestehenden Strukturen aufbrechen, anstatt den Büroarbeitsplatz in die Wohnung der Mitarbeiter zu ,verlängern’“, meint auch Citrix’ Deutschlandchefin Petra-Maria Grohs. Wirklich flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten benötige ein umfassendes Cloud-Konzept mit modernen Tools und neue Sicherheitsansätze auf Geräteebene, so Grohs.

„Wer das ,Corona-Home-Office’ jetzt in ein dauerhaftes mobiles und flexibles Arbeiten verwandeln möchte, muss sich im Detail mit Ist- und Soll-Zuständen auseinandersetzen und anhand dessen einen mit der Belegschaft abgestimmten Fahrplan definieren und umsetzen“, rät AppSphere-Vorstand Frank Roth. Infrastrukturfragen seien dabei ebenso wichtig wie Arbeitsschutz und Arbeitsplatzkonzepte.

Fachleute warnen davor, hier die Bedürfnisse der Belegschaft zu vernachlässigen: „Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, diese neue Form der Arbeit auch emotional leisten zu können“, sagt Geoffroy de Lestrange von Cornerstone OnDemand. Das Themenspektrum umfasse Stress-Management, Vorbereitung auf das Home-Office, Gestaltung von Lernprozessen und Collaboration-Tools.

„Aktives Vorleben durch die Führungsriege in der Nutzung von Collaboration-Tools sowie eine Schulung nimmt auch skeptischen oder technisch schwerfälligen Mitarbeitern Hemmungen“, ergänzt Ilogixx-Chef Christian Becker. Poly-Vertriebsleiter Henning Schäfer betont, die Unternehmen müssten dazu in professionelles Equipment investieren: „Qualitativ hochwertige Headsets und Kameras tragen dazu bei, bei virtuellen Interaktionen eine persönliche Nähe zwischen den Teilnehmern herzustellen.“

Mit ein paar neuen Headsets und Kameras wird es aber wohl nicht getan sein: Vorausschauende Firmenchefs spendieren ihrer Home-Office-Belegsschaft moderne Mobilgeräte, zusätzliche DSL-Anschlüsse, sichere WLAN-Router und ergonomisches Büromobiliar. Schließlich werden viele Beschäftigte noch geraume Zeit von zu Hause aus arbeiten, und manche eben auch noch in ferner Zukunft – selbst wenn sie nicht gleich vollends im „Metaversum“ verschwinden.

Zwei Schritte vorwärts, einer zurück

Pandemiegetriggert haben viele Unternehmen einen Sprung nach vorn in Richtung digital gestützter Arbeitsweisen gemacht – und zugleich einen Schritt zurück ins gute alte Home-Office. Nun stehen sie vor der Aufgabe, vom Heimbüro zu einer strategischen Digitalisierung ihrer Arbeitsweisen zu kommen, die auch mittelfristig den Anforderungen einer zunehmend volatilen Arbeitswelt entspricht. Dies erfordert nach dem ersten Schrecksprung eine erneute, gründlicher geplante Innovationsbewegung.

Auch Marty McFly schaffte es schließlich erst im zweiten Teil der „Back to the Future“-Trilogie, nicht nur in die 1950er-Jahre, sondern tatsächlich in die Zukunft zu reisen. Hoffen wir, dass für einen echten Aufbruch in die „Future of Work“ nicht erst eine zweite Krise nötig sein wird – und dass wir nicht, wie McFly im letzten Teil der Trilogie, auch noch den Umweg über den „Wilden Westen“ nehmen müssen. Das fänden IT-Security-Fachleute sicher gar nicht gut.

(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 07/2020.)

Bild: (c) Wolfgang Traub