Der Igel mit dem zweiten Trick

Auf seiner Hausmesse Disrupt in Unterschleißheim bei München verkündete Igel am 5. Februar den über 600 Teilnehmern nicht nur beachtliche Wachstumszahlen, sondern auch einen Wechsel an der Führungsspitze: Jed Ayres, bislang neben Gründer Heiko Gloge Co-CEO für den US-Markt, ist nun alleiniger Chef des Bremer Thin-Computing-Spezialisten. Gloge bleibt dem Unternehmen als geschäftsführender Gesellschafter erhalten. Die große Nachricht auf Produktseite war eine neue Generation des Thin Clients UD3 – wobei sich die Bremer inzwischen allerdings vorrangig als Softwarehaus für Cloud Workspaces positionieren.

„It’s hard to teach an old dog new tricks“, wie der Amerikaner sagt: Es ist schwer, einem alten Hund neue Kunststücke beizubringen. Man möchte meinen, dass für Stacheltiere der Gattung Igel Ähnliches gilt. Das gleichnamige Bremer Unternehmen hingegen hatte sich 2016 aufgemacht, die IT-Welt vom Gegenteil zu überzeugen, und eine Niederlassung in San Francisco eröffnet, von wo aus Jed Ayres als neu ernannter CEO für Nordamerika das Business dirigieren sollte.

Igels Trick: Obwohl im Heimatmarkt seit Jahren als Thin-Client-Marktführer etabliert, versuchte man nicht, den US-Größen wie Dell und HP mit solider Hardware „made in Germany“ Paroli zu bieten, sondern setzte alles – oder zumindest viel – auf die Softwarekarte. Die Bremer hoben damals hervor, sie seien Hersteller „softwaredefinierter Endpunkte“ und einer leistungsstarken Workspace-Management-Software.

„Softwaredefiniert“ sind IT-Endgeräte eigentlich immer, läuft doch auf allen eine Firmware. Gemeint war hier die Softwareseite des Igel-Portfolios: die hauseigene Linux-Variante Igel OS, das Management-Tool UMS und ein Thin-Client-Image namens „Universal Desktop Converter“ (UDC), das es erlaubte, Legacy-PCs wie auch Fremd-TCs unter UMS-Verwaltung zu nehmen.

Weder Igel OS noch UMS oder UDC sind wirklich neu – LANline berichtete schon 2010 über das PC-Konvertierungswerkzeug (siehe http://www.lanline.de/igel-virtuelle-desktops-heben-ab-html/). Neu ist aber, dass ein ausländischer TC-Spezialist im Heimatmarkt von Dell und HP gegen die US-Platzhirsche antritt – und damit Erfolg hat: Die Bremer – die sich auf ihrer Hausmesse auch diesmal wieder grell-bunt „amerikanisch“ gaben – lieferten laut eigenen Angaben letztes Jahr 749.000 Igel-OS-Einheiten aus, ein Plus von 132 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Insgesamt stieg der Umsatz um 35 Prozent auf 150 Millionen Dollar – fast eine Verdopplung gegenüber dem Jahr 2017, als das Unternehmen mit 372.000 Software-Einheiten 76 Millionen Dollar umsetzte. Aufgrund des rasanten Wachstums hat Igel seinen Vertrieb reorganisiert und in die Regionen „Americas“ (Nord- und Südamerika) sowie EMEA aufgeteilt. Laut Unternehmensanaben stammen 86 Millionen des aktuellen Umsatzes (63 Prozent) aus der EMEA-Region, stolze 37 Prozent somit vom noch jungen US-Business, und dort laut Gründer Heiko Gloge überwiegend aus Softwareverkäufen.

Optimismus dank Cloud

Optimistisch in die Zukunft blicken kann Igel derzeit nicht zuletzt deshalb, weil Microsoft mit Windows Virtual Desktops (WVDs) letzten Herbst in den DaaS-Markt (Desktop as a Service) eingestiegen ist. Der Konzern bietet damit die Option, neben Office 365 und weiteren SaaS-Angeboten auch gleich den ganzen Desktop in seiner Azure-Cloud hosten zu lassen – und die Bremer waren als (vorerst) exklusiver Partner für Linux-Clients mit an Bord.

Deshalb kann der deutsche Hersteller nun den ersten Linux-basierten Endpunkt vorweisen, der für WVDs validiert ist. Vor diesem Hintergrund bezeichnete CEO Jed Ayres den DaaS-Markteintritt Microsofts – der recht spät kam (LANline berichtete) – als „historischen Wendepunkt“. Diese Wende wiederum bildet den Rahmen dafür, dass sich Igel nun als Anbieter eines „Edge OS for Cloud Workspaces“ positioniert. Selbst US-Regierungsbehörden, so Ayres, kauften inzwischen Igel-Software.

Trotz des Wandels zum „Software First“-Anbieter: Die große Produktneuheit auf der Disrupt betraf Igels traditionelles Kerngeschäft, die Thin Clients: Es gibt eine neue TC-Generation von Igels Universal Desktop 3 (UD3). Das Gerät kommt mit AMD Ryzen Embedded R1505G SoC (System on a Chip), bietet integriertes WLAN und Bluetooth, die sich optional freischalten lassen, zudem einen integrierten SmartCart-Reader. Der UD3 unterstützt laut Hersteller zwei 4K-Displays und kommt mit „SuperSpeed USB Type C“-Port (10 GBit/s) nebst diversen weiteren Standard-Ports. Die thermische Verlustleistung des SoC-Prozessors liege bei nur 10 Watt.

Eine Besonderheit des Geräts, das im Mai auf den Markt kommen soll, findet sich aber in der Tat auf der Softwareseite: Igel und AMD haben laut Angaben der Bremer die Vertrauenskette (Chain of Trust) ausgeweitet, um für Sicherheit vom Endgerät bis zur Cloud zu sorgen: AMDs Secure Processor Technology, die im SoC-Prozessor enthalten ist, werde bereits wirksam, bevor das UEFI (Unified Extensible Firmware Interface) bootet. Der Embedded-Prozessor prüfe, ob der UEFI-Binärcode kryptografisch von Igel signiert ist, um Manipulationen am Code auszuschließen.

Das UEFI wiederum checke anschließend den Boot-Loader nach einer „UEFI Secure Boot“-Signatur, danach kontrolliere der Boot-Loader den Linux-Kernel des Igel OS. Nur wenn die OS-Partitionen auf der Festplatte korrekt signiert sind, so Igel, wird das OS initialisiert und die Partitionen werden gemountet.

Gewaltige Herausforderungen

Die zunehmende Vielfalt der Endpoint-Einsatzszenarien bringt laut Nathan Hill, Research VP bei Gartner und Gastredner auf der Disrupt, „gewaltige Herausforderungen“ für die IT. Es gelte daher, die Hardware wie auch die Software der Endpunkte dieser neuen Lage anzupassen: „Wir müssen zu einem kontinuierlichen und kontextbezogenen Workspace übergehen“, so Hill. Dazu müsse man auch die Bereitstellungsprozesse ändern, um ausreichend skalieren zu können. „Legacy-Prozesse können mit dem heutigen Tempo nicht Schritt halten“, warnte Hill.

Neben neuen Prozessen sei auch ein Kulturwandel bei den Mitarbeitern in Richtung „Agile Ops“ (agiler IT-Betrieb) notwendig. Die menschliche und prozessbezogene Seite, so Hill, sei der schwierigste Teil des Wandels. Er riet den Unternehmen deshalb, neben technischer Breite und Tiefe auch die Business-Kompetenzen der IT-Organisationen im Blick zu behalten. Denn die IT müsse künftig eng mit ihren Kunden – also den Fachabteilungen – zusammenarbeiten.

Scott Manchester, Group Program Manager Remote Desktop Services bei Microsoft, gab einen Überblick über Windows Virtual Desktop. WVD liefere „die sicherste Virtualisierungsumgebung“, denn sie gebe dem Administrator mittels Richtlinien die volle Kontrolle über Zugriffe auf die Cloud-Services. Die Akquisition des App-Provisionierungsanbieters FSLogix Ende 2018 werde es Unternehmen erleichtern, ihre VDI-Umgebungen (Virtual Desktop Infrastructure) in die Cloud zu migrieren. Künftig soll es MSIX App Attach erlauben, MSIX-paketierte Software einfach einem WVD hinzuzufügen, während Azure Files für einen bequem nutzbaren Cloud-Storage sorge. Man arbeite an einer besseren Integration von WVD mit Microsoft 365 ebenso wie an der Optimierung der Bedienbarkeit durch Administatoren.

Laut Citrix’ Solution Strategist Sasa Petrovic werden künftig die Personalabteilungen das Konzept der „New Work“ – also möglichst einfaches, digital gestütztes Arbeiten – vorantreiben. Es gelte deshalb, Applikationen in personalisierte Arbeitsschritte zu destillieren, wie Citrix dies mit den Micro-Apps seiner Workspace-Lösung vorexerziert. Eine wichtige Rolle für die Absicherung der Cloud-basierten Workspaces werde der „Zero Trust“-Sicherheitsansatz spielen, den Petrovic auf die kompakte Formel brachte: „Vertraue nie, verifiziere immer, Just-in-Time-Zugriff und nur die notwendigen Zugriffsrechte“.

Petrovic sah bei der anschließenden Panel-Diskussion den menschlichen Faktor als große Herausforderung für den Wandel zur „New Work“, denn: „Menschen reagieren immer unterschiedlich auf Veränderung, es gibt da nicht nur Eins und Null.“ Deshalb werde die Transformation Jahre dauern. Gartner-Mann Hill betonte, Informationen werde es künftig überall geben, aber die technische Integration müsse „für Endanwender unsichtbar“ sein.

Auch Igel-CTO Matthias Haas schloss sich dem Ruf nach einfacherer Bedienung an: Dies beginne schon damit, dass künftig das Management der Umgebung einfacher zugänglich sein müsse – nämlich über den Marketplace des Cloud-Providers. Im Hinblick auf die Endanwender sei es künftig wichtig, mittels Identity Federation ein Single Sign-on zu ermöglichen, auch mit Mehr-Faktor-Authentifizierung.

„One-trick pony“ – ein Zirkuspferdchen, das nur ein einziges Kunststück beherrscht: So nennen die Amerikaner jenen Typ Mensch, den man im Deutschen gern als „Fachidiot“ bezeichnet, aber auch jenen Typ Unternehmen, deren Wohl und Wehe an einem einzigen Produkt hängt. Dass Igel kein „one-trick pony“ ist, haben sie bewiesen. Man darf gespannt sein, was die Bremer in den kommenden Jahren noch alles in ihre Trickkiste packen. Denn auch wenn der mit Microsoft Mithilfe aufblühende Markt Cloud-basierter digitaler Arbeitsplätze bis auf Weiteres ein fröhlich wachsendes, lukratives Business verspricht: Mittelfristig wäre ein wachsendes Trickportfolio sicher eine sinnvolle Alternative dazu, sich in Linux-Lorbeeren einzuigeln.

(Dieser Beitrag erschien erstmals in LANline 04/2020.)

Bild: Dr. Wilhelm Greiner