Eine Industrienation wie Deutschland sollte in Krisenzeiten in der Lage sein, den Schulunterricht jederzeit per Remote Schooling fortzuführen. Doch hier hat der Exportweltmeister™ in den ersten Wochen der Corona-Pandemie jämmerlich versagt.
Die Politik hat Homeschooling verordnet, dann aber Lehrer, Schüler und Eltern mit ihren Sorgen und Nöten weitgehend alleingelassen. Zum „Remote Schooling“ – zum Fernunterricht mit digitalen Hilfsmitteln – gab es höchstens ausführliche Vorgaben, was alles verboten ist, meist aus Datenschutzgründen. Das hat innovationsfreudige Lehrkräfte gleich wieder ausgebremst. (Ja, Datenschutz ist wichtig. Habe aber Gerüchte gehört, Bildung sei das auch.)
Auf den Kern des Problems weist eine Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom vom März: Von den Fördermitteln des „Digitalpakts Schule“, beschlossen vor einem Jahr in Höhe von fünf Milliarden Euro, wurden laut Bitkom bis März erst ein paar hundert Millionen abgerufen. Drei Bundesländer hatten damals noch gar keine Fördermittel bewilligt.
In Gesprächen mit IT-Anbietern und Lehrern habe ich gelernt, dass Digitalisierung an deutschen Schulen ungefähr so abläuft: Man bekommt Fördermittel zugewiesen, beschafft damit zum Beispiel 20 iPads im robusten Rollkoffer mit Schulsoftware für den Frontalunterricht und erklärt einen Mathe- oder Physiklehrer für zuständig („Herr Mayer, Sie kennen sich doch mit diesem IT-Zeugs aus, nicht wahr?“). Dieser stellt dann schnell fest, dass Frontalunterricht auch ohne iPads funktioniert, und rollt daraufhin den robusten Rollkoffer in die Materialkammer, wo dieser von nun an verstaubt. Digitalisierung: „achievement unlocked“, Fortschritt: exakt null.
Die Pandemie hat uns gelehrt: Es geht bei der Digitalisierung im Bildungswesen nicht vorrangig darum, den Schulunterricht moderner und multimedialer zu gestalten. Oberste Priorität muss vielmehr die Resilienz des Unterrichts haben: Bei der nächsten Pandemiewelle – oder beim nächsten Virus, bei extremer Hitze, Glatteis etc. – muss sich der Unterricht zügig auf Remote Schooling umstellen lassen.
Leider dreht sich die Debatte meist um den Wissenstransfer vom Lehrer zum Schüler. Doch hier herrscht eigentlich gar kein Mangel: Ohne großen Aufwand könnte man präsentationsbegabte Lehrer Online-Unterrichtsmaterialien erstellen lassen, die dann jederzeit abrufbar sind. Einführen könnte man dies auch gerne im Rahmen eines Wettbewerbs um den besten Content.
Ich habe mir sogar sagen lassen, einen üppigen Bestand solcher Inhalte gebe es bereits: Er nennt sich „Bildungsfernsehen“, ist in den Mediatheken von ARD und ZDF zu finden und somit selbst jenen Haushalten zugänglich, die nur schmalbandig oder gar nicht ans Internet angebunden sind.
Sind sämtliche Lehrinhalte sämtlicher Klassen erst einmal ansprechend aufbereitet und jederzeit online (oder eben per TV-Mediathek) abrufbar, könnten sich die Lehrkräfte in Krisen auf das wirklich Wichtige konzentrieren: auf die individuelle (Fern-)Betreuung von Schülerinnen und Schülern, die Begleitung von Arbeitsgruppen und Prüfungen.
Dazu müssten aber Schulleitung und Lehrpersonal erst einmal das Potenzial digitaler Methoden für den resilienten Schulbetrieb kennen und verstehen. Kein Problem, möchte man meinen, wir sind doch das Land der Dichter und Denker™! Der angestaubte robuste Rollkoffer spricht aber eine andere Sprache. Deshalb wären drei Schritte nötig:
1. Strategie-Workshops mit Direktor*innenund Lehrer*innen, um die Möglichkeiten der digitalen Welt für den krisenfesten Unterricht aufzuzeigen, für jede Schule individuell geeignete Ziele und Maßnahmen festzuzurren und gezielt Budget dafür zu beschaffen.
2. Einführung von Collaboration-Tools (Video-Conferencing, digitale Workspaces, Filesharing etc.), ergänzt um Prozesse für die Notfallkommunikation, Einweisungen und Trainings. So wäre zumindest das Kollegium schon mal resilient aufgestellt, und zugleich legt man das Fundament für eine weitergehende krisensichere Digitalisierung des Unterrichts.
3. Ausarbeitung schulspezifischer Notfallpläne, um den Schulunterricht im Krisenfall kurzfristig auf Remote Schooling umstellen zu können, gefolgt von regelmäßigen Testläufen.
Die Pandemie hat gezeigt: Digitalisierung der Schule muss heute das oberste Ziel verfolgen, den Schulbetrieb selbst in Krisenzeiten sicherzustellen. Hier liegt enorm viel im Argen – setzen, sechs! Jetzt gilt es, einen neuen Anlauf zu nehmen, indem man zunächst den Lehrkörper krisensicher organisiert. Dann gelingt unserem Wirtschaftswunderland™ vielleicht sogar eines Tages die Versetzung in die Oberstufe der Digitalisierungsnationen.

(Diese Glosse erschien ursprünglich im Mai 2020 auf meinem damaligen Blog.)
Bild: (c) Wolfgang Traub
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